Spiegelungen II,XI

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Es ist, als hätte der König dich in ein fremdes Land geschickt,
um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erledigen.
Du gehst und erfüllst hundert wichtige Aufgaben;
wenn du jedoch die eine Angelegenheit,
deretwegen du geschickt wurdest, unerledigt lässt, ist es,
als hättest du gar nichts erreicht.
Genauso kommt der Mensch auf die Welt,
um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen,
das ist sein Lebenszweck.
Sogyal Rinpoche – Das tibetanische Buch von Leben und Sterben

 

Günter erschien mit der für sein Land zu erwartenden Pünktlichkeit. Dennoch fragte sich Claire, als sie vom Stuhl aufstand, um ihn zu begrüßen, während er dem Taxi entstieg, wie man in diesem Land, das in vielem seine eigene Zeit zu haben schien, überhaupt pünktlich sein konnte. „Punktlandung!“, hätte ihr Vater anerkennend Günter gegenüber geäußert.

Einen Schritt vor ihrem Aufeinandertreffen blieb Günter stehen. Dies ließ auch sie innehalten. So standen sie da, zwei Menschen, die sich zum ersten Mal begegneten, wobei Claire davon ausgehen konnte, dass ihr Vater ihre Existenz nicht verschwiegen hatte. Würde sie im Laufe ihres Aufeinandertreffens mehr davon erfahren.

Günter trug eine helle Leinenhose und ein weißes Hemd. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. War es das, was ihn hatte innehalten lassen.

Während Claire noch überlegte, wie sie sich Günter nähern und begrüßen sollte, kam er bereits auf sie zu und nahm sie für sie doch überraschend herzlich in den Arm. Es war, als habe man sich lange nicht gesehen und sei nun erfreut über ein Wiedersehen. Ohne recht darüber nachdenken zu können, ob ihr das recht sei, erwiderte sie einfach die herzliche Umarmung. Nicht ganz uneigennützig, schließlich erhoffte sie sich für die nächsten Stunden, mehr von ihrem Vater zu erfahren.

„Schön, dich endlich mal kennenzulernen. Ich sage jetzt nicht, dein Vater hat ja so viel von dir erzählt; aber es stimmt doch. Ich freue mich einfach, auch wenn es ein trauriger Anlass ist, der uns zusammengeführt hat.“

Claire war sprachlos. Günter schien gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Gut so, dachte sie, so sparen wir uns lange Schlenker über Wetter, Land und Leute.

„Hola Junter, como te vas?“

Olga war unbemerkt auf die Veranda getreten und nahm Günter zur Begrüßung in ihre Arme. Ein drollige Bild, denn Olga reichte Günter gerade bis zur Brust.

Es folgte ein Redeschwall an Fragen und Antworten, dem Claire nicht folgen konnte.

„Un cafecito, Junter?“

„Si, muy amable, Olga!“

Bei seiner Antwort zog Günter das si sehr in die Länge, hob und senkte dabei seine Stimme mehrere Male. Claire musste über diesen Singsang schmunzeln. Wie viel doch in diesem Land in die Betonung einzelner Worte und Silben gelegt wird, dachte sie.

Olga kehrte zurück ins Haus und machte sich daran, den Kaffee zu kochen.

Claire und Günter nahmen am kleine Bistrotisch auf der Veranda Platz. Günter war es, der kein langes Schweigen aufkommen ließ.

„Ich finde es toll, dass du dich auf den Weg gemacht hast. Ach so, kann ich „du“ sagen?“

Claire nickte und schwieg.

Einen Augenblick war Günter irritiert, weil Claire den Faden nicht aufnahm, schob aber schnell eine nächste Frage nach.

„Wann hast du deinen Vater eigentlich das letzte Mal gesehen?“

„Du gehst ganz schön schnell zur Sache. Eigentlich kenne ich dich gar nicht… aber lassen wir das mal gut sein. Auch ich habe ein Interesse, so viel wie möglich zu erfahren. Deshalb bin ich hier.“

Es folgte eine Pause, in der Claire zu überlegen schien.

„Also genau genommen habe ich meinen Vater zuletzt vor gut vierzig Jahren das letzte Mal gesehen. Es war…“

„… nach diesem Ausflug an seinem Geburtstag.“

Günter musste loslachen.

„Ausflug?! Ja, so kann man es auch nennen.“

Claire musste auch lachen. Es war das erste Mal, dass sie über diese für sie bisher so belastende Zeit lachen konnte. Etwas schien sich in ihr gelöst zu haben und dies ließ sie noch heftiger Lachen.

Im weiteren Verlauf des späten Vormittags erfuhr sie so Manches über ihren Vater. Olga gesellte sich mit einem köstlichen Kaffee dazu und saß immer noch bei ihnen, als der Kaffee längst ausgetrunken war. Was sie zu berichten hatte, wurde von Günter übersetzt.

Ihr Vater hatte einige Zeit in der großen Stadt verbracht, bis das Geld nur noch für eine Fahrkarte reichte. Am Busterminal hatte er dem Fahrkartenverkäufer sein Geld gezeigt und mit Gesten sein Frage formuliert: Wohin komme ich damit? Daraufhin hatte der Fahrkartenverkäufer irgendeinen Namen genannt. Ihr Vater verstand ihn nicht, nickte einfach, nahm die Fahrkarte entgegen und folgte dem ausgestreckten Finger.

Der Busfahrer drehte sich während der Fahrt nach ungefähr zwei Stunden Fahrzeit regelmäßig um. Erst später verstand ihr Vater, dass er wohl, als der Busfahrer, seine Fahrerkabine verließ, zu ihm an den Sitzplatz kam und ihn ein Zeichen zum Aufstehen gab, schon vor geraumer Zeit sein Fahrziel hinter sich gelassen hatte.

Als der Bus längst weitergefahren war, er mit seinem Koffer auf der staubigen Straße stand und der Staubwolke des Busses hinterher sah, zuckte er die Schultern. Im Grunde war es egal, wo er gelandet war.

Olga stand damals auf ihrer Veranda und erkannte sofort, dass dieser Mann Hilfe brachte. Er wirkte irgendwie verloren. Es schien, als habe dieser auch nicht wirklich ein Ziel. Selten, eigentlich gar nicht verirrte sich jemand, von dem man gleich sah, dass er fremd war, mit einem Koffer hier. Gelegentlich gab es Rucksacktouristen. In der Regel waren sie jünger. Andere kamen im Mietwagen durchgefahren und sahen in dem Ort nur einen unbedeutendes Kaff.

Aus der ersten Begegnung wurde eine lange bis zum Tod gehende Freundschaft.

An der Art, wie Olga über ihren Vater erzählte, glaubte Olga erkennen zu können, dass sie ihn wohl sehr in ihr Herz geschlossen hatte. Als Olga davon berichtete, wie er anfangs, ungeschickt, wie er sein konnte, regelmäßig aus der Hängematte gefallen und dabei einmal so unglücklich auf den Rücken gefallen war, dass ihm die Luft wegblieb, hatte sie sich besorgt über ihn beugen müssen. Dabei müssen ihr zum ersten Mal sein tiefblauen Augen aufgefallen sein, von denen sie gerade schwärmen ließ und sie dabei leicht errötete.

Alles, was Claire in diesen ersten Stunden über ihren Vater erfuhr, war für sie wie ein Handvoll kostbare Mosaiksteinchen, die ihr Olga und Günter überreichten. Vielleicht konnte es ihr auch dank dieser gelingen, ein anderes Bild von ihrem Vater zu bekommen. In manchem erkannte sie ihn wieder. Anderes war doch eher überraschend. Vor allem erstaunte sie, wie sehr er sich auf dieses andere Leben eingelassen haben musste und darin offenbar aufgegangen war. Hatte er hier seine Bestimmung gefunden.

Einige Zeit lag Claire während der Mittagspause auf ihrem Bett, sah an die Decke und dachte darüber nach, was sie ihrem Vater auf die Frage nach ihrer Bestimmung hätte antworten können. Dazu war es nie gekommen. Die Frage stand dennoch im Raum.

War sie hier, um eine Antwort auf diese Frage zu finden?