Lass uns das Leben liebevoll in unseren Armen halten
und unsere Unachtsamkeit und Verzweiflung loslassen.
Thich Nhat Hanh – Versöhnung mit dem inneren Kind
Claire träumte.
Sie war mit dem Fahrrad unterwegs. Es dämmerte schon, aber sie nahm trotzdem die Abkürzung durch den Wald. Plötzlich stand ein kleines Mädchen auf dem Weg. Claire hielt an.
„Kann ich dir helfen“, fragte Claire das Mädchen.
„Gewiss. Ich habe mich verlaufen und finde nicht zurück. Die Person, mit der ich unterwegs, war, hat mich einfach zurückgelassen.“
„Wie kann das sein?“
„Das frage ich mich auch. Es scheint als habe jemand Angst vor mir.“
„Angst, wovor?“
„Nun, es gibt Dinge, die im Leben geschehen und die sind nicht schön. Und viele Menschen glauben, es sei am Besten uns nicht an sie zu erinnern. Obwohl andere allzu oft davon etwas mitbekommen, verstecken wir sie. Wenn uns jemand anspricht, streiten wir alles ab und tun so, als ginge es uns gut. Wir sind dann sehr unachtsam mit uns.“
„Unachtsam? Ist es nicht manchmal besser alles hinter sich zu lassen und zu vergessen?“
„Nein, darin besteht ja die Unachtsamkeit. Denn im Grunde überlassen wir einem Anderen durch das, was er uns angetan hat, uns in die eine oder andere Richtung im Leben zu drängen.“
„Kann ich verstehen. Ich will auch nicht noch einmal etwas erleben, was unangenehm war.“
„Wenn du nicht achtsam mit dir bist, wirst du für alles, was du je erlebt hast und sei es nur ein einziges Mal, Bestätigung suchen. Du wirst ein Leben lang darauf warten, dass es sich nochmals ereignet.
„Und was hat es mit der Achtsamkeit auf sich?“
„Wahrnehmen und Hören auf das, was uns unser Inneres zu sagen hat. Es kommt darauf an, all unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was gerade geschieht. Der Blick in die Vergangenheit ist wie ein Sieb, dass nur durchlässt, was bereits geschehen ist und uns bekannt erscheint. Wenn du dagegen alles, das du tust in Achtsamkeit geschehen lässt, dann wird dein Blick für die Dinge ein anderer. Du wirst dich auf die Suche nach den kostbaren Schätzen in dir machen.“
„Kann ich dich einladen mit mir zu gehen und mich zu begleiten?“
„Hast du keine Angst vor mir?“
„Doch, sehr sogar. Aber macht uns nicht alles, was wir noch nicht kennen erst einmal Angst? Diese Angst bin ich bereit, auf mich zu nehmen. Ich spüre, sie ist so anders, als jene, die ich habe, wenn ich mir vorstelle, dass sich alles noch einmal wiederholen könnte, was mir einst Schmerzen bereitet hat.“
Als Claire erwachte, hatte sie das Gefühl, geträumt zu haben, konnte sich aber nur an „ All unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was gerade geschieht.“ erinnern. Sie wiederholte diesen Satz einige Male, bevor sie im Bett aufrichtete, auf die Uhr sah und feststellte, dass es bereits nach vier Uhr war. Zeit also, aufzustehen und das Gespräch mit Günter fortzusetzen.
„Na, du siehst aber verschlafen aus“, sagte Günter, als Claire auf die Veranda trat.
„Ja, ich bin tief eingeschlafen und muss geträumt haben.“
Claire war erstaunt, wie leicht es ihr fiel, das Naheliegende unverblümt anzusprechen. Zuletzt hatte sie ihrer Freundin Anna so begegnen können und das war lange her. Es schien, als wirke sich der Umstand, in Günter doch eher einen Fremden sehen zu können, förderlich aus.
„Magst du mir erzählen, was du geträumt hast.“
„Von meinem Traum ist mir aber nur der Satz ‚All unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was gerade geschieht’ in Erinnerung.“
„Und was geschieht gerade für dich.“
„Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es auch nicht so recht. Jahrzehntelang habe ich ohne Familie gelebt, habe immer gedacht es wäre besser so. Im Augenblick frage ich mich jedoch, wovor ich mich geschützt habe. Ich hatte solange nur ungute Gedanken, gar Hass gerade für meinen Vater übrig. Dies macht mich nun traurig. Ich wünschte, er wäre jetzt hier, hier an diesem Ort, wo er ein so ganz und gar anderes Leben geführt hat. Bei allem, was ich hier erfahre, wird mir deutlich, ich habe ihn nicht wirklich gekannt.“
Claire holte tief Luft und hielt für Augenblicke inne. Günter konnte wahrnehmen, dass sie mit den Tränen kämpfte.
„Ist es das Los eines jeden Kindes, die Eltern nie so recht kennenzulernen. Solange man zu Hause lebt, dreht sich alles nur um die Zukunft der Kinder. Tu dies nicht, tu das nicht… Dabei wäre es doch so einfach, über das zu reden, was Eltern wie Kinder immer beschäftigt: Warum bin sind wir hier und was ist unsere Bestimmung? Stattdessen sorgt man sich um das, was aus uns Kindern wird, hält den ersten Freund für die größte Gefahr, setzt alles daran, um die Beziehung zu unterbinden, so, als gelte es eine Atombombe zu entschärfen. Nie habe ich gleichviel Energie für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens erlebt. Und irgendwann, aus Gewohnheit oder Resignation, wer kann dies schon sagen, haben wir uns damit arrangiert, dass es wohl andere Dinge gilbt, die wert sind, dass man sich Gedanken darüber macht. Ich weiß noch, wie ich immer Tänzerin werden wollte. Ob es der gedankenlose Kommentar ‚Brotlose Kunst’ meines Vater damals war, die Art von Äußerungen, die man über alles hasst, denen man sich aber nie entziehen kann, die wirken, weil doch jedes Kind immer und vielleicht zu allererst nach der Anerkennung und Liebe der Eltern strebt. Heute merkte ich, dass auch er mit seinen Gedanken ganz wo anders gewesen sein muss und ich frage mich, was in ihm all die Jahre vorgegangen ist. Wie lange er gebraucht hat, um am Ende einen Schritt zu wagen, für den er von den eigenen Eltern wahrscheinlich auch nur ein mitleidiges Kopfschütteln geerntet hätte. Was, was nur hält uns davon ab, über die wirklich wichtigen Dinge miteinander zu sprechen.“
„Feigheit ist es nicht. Dein Vater, war ein durch und durch gradliniger Mensch. Wir haben viele schöne Stunden hier auf dieser Veranda verbracht und nächtelang durchgemacht, bis Olga am nächsten Morgen, mit dem Frühstück kam.“
„Was ist es dann?“
„Wir reden einfach zu wenig miteinander über die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Reden hat doch häufig nur einen Sinn, sich austauschen über das, was gerade passiert ist.“
„Oh, wie ich diese Frage ‚Na, wie war die Schule heute’ gehasst habe. Ich glaube, mir wird zum ersten Mal klar warum. Ich habe mich dabei immer gefühlt, als käme ich vom Arzt und könnte nur stolz verkünden, ich wäre noch gesund. Mit dem Studium und später mit dem Beruf war es nicht anders. Die Frage danach, wie es einem geht, zielte doch nur darauf ab, zu erfahren, ob alles im grünen Bereich ist. Nie hat sich jemand, selbst bester Freunde nicht, wirklich dafür interessiert, ob ich in meinem Beruf auch meine Bestimmung gefunden habe, was aus meinem Traum, Tänzerin zu werden, geworden sei. Wie anders wäre alles geworden, wenn ich schon früh zu Hause etwas von den Träumen und Gedanken meiner Eltern erfahren hätte.“
„Wohl war. Mit deinem Vater konnte ich wunderbar träumen… und immer, wenn wir schon ein Gläschen getrunken hatten, spielten wir ein Spiel.“
„Ein Spiel? Welches?“
„Stell dir vor, du hättest die Fähigkeit zu entscheiden, nicht mehr aus einem Traum aufzuwachen, welcher Traum wäre das.“
Günter überlegte eine Weile. Er versuchte sich offensichtlich an etwas Konkretes zu erinnern.
„Darf ich dir von einem erzählen?“
„Nur zu.“
„Eines Nachts war dein Vater gerade an der Reihe und sagte: ‚Mein Traum, aus dem ich nicht mehr erwachen wollte, wäre der: Claire würde mich hier besuchen kommen. Und so, als ob es nichts Trennendes zwischen uns gäbe, würden wir den Tag miteinander teilen. Sie würde mich auf die Kaffeeplantage begleiten. Abends nach getaner Arbeit würden wir erschöpft und verschwitzt nach Hause zurückkehren, hier auf der Veranda unseren Tag mit einem kühlen Bier abschließen und ihn dann mit einer Runde „Wenn mein Traum nicht enden würde“ krönen. Ich weiß noch, wie diese Worte ihm aus dem tiefsten Inneren kamen, gelockert durch den bereits geflossenen Alkohol wie Luftblasen einfach so an die Oberfläche kamen… und wie er zu weinen begann… und ich ihn kaum noch zu trösten vermochte. Später als wir uns zum Schlaf verabschiedeten, nahm er mich in den Arm, drückte mich lange und sagte dann: „Wir wollen uns nicht arm nennen, weil unsere Träume nicht immer in Erfüllung gegangen sind. Wirklich arm wären wir nur, wenn wir nie geträumt hätten.“