spiegelungen II,XIII

IMG_5481

Ein buddhistischer Mönch fragte Kejon:
„Wie kehrt ein Erleuchteter nach seiner Meditation
wieder in die Welt des Alltags zurück?“
Kejon antwortete ihm:
„Ein zerbrochener Spiegel spiegelt nie mehr wieder.
Abgefallene Blüten kehren niemals wieder an ihren Ast zurück.“
Alejandro Jodorowsky – Der Finger und der Mond

 

Schwere lag auf ihre Seele, als Claire am nächsten Morgen erwachte. Sie fühlte sich benommen. Es fiel ihr schwer, die Augen geöffnet zu halten. Durch das Fenster drang die morgendliche Sonne ins Zimmer und warf ein seltsames Muster auf die gegenüberliegende Wand.

Etwas schien sie voranzutreiben, gleichzeitig hielt sie etwas zurück. Sie spürte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen und kämpfte dagegen an. Eine Hitze stieg in ihr auf. Schweiß trat aus all ihren Poren und überzog ihren ganzen Körper mit einem kalten Film. Was war es, dass sich hier ihrer bemächtigte.

Nach Augenblicken der Einsicht und Klarheit in Zusammenhänge ihres Lebens, war Claire schon manches Mal in einen Zustand der Lethargie gefallen.

Ihr Kopf schien zu platzen, so als würde ihn jemand wie einen Ball aufpumpen. Der Druck nahm ihr fast das Bewusstsein. Claire versuchte ruhig einzuatmen. Sie schloss die Augen und begann sich ganz auf ihre Atmung zu konzentrieren. Ihre Hände lagen seicht auf ihrem Brustkorb. Sie konnte spüren, wie sich dieser auf und ab bewegte.

Nach einer Weile schwand der Druck in ihrem Kopf und die Übelkeit ließ nach. Ihr ganzer Körper begann sich zu entspannen. Und dann geschah etwas Sonderbares.

Zunächst war ihr, als überkomme sie eine wohlige Müdigkeit. Doch dann spürte sie, wie sie etwas fortriss. Es war ihr, als würde sie ihren Körper verlassen. Helles Weiß umgab sie. Dann riss der Faden ihres Bewusstseins.

 

Als Claire die Augen öffnete, war ihr Blick verschwommen. Ein Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf. An den Lauten, die wie durch Watte gesprochen kaum hörbar zur ihr drangen, meinte sie die Stimme eines Mannes zu erkennen.

„Günter!?“

„Claire! Kannst du mich hören.“

Claire nickte.

Es dauerte noch eine ganze Weile bis sich ihr Blick schärfte und sie Günter erkennen konnte.

„Was ist passiert?“

„Du hast fast zwei Tage am Stück geschlafen. Geschlafen ist nicht der richtige Ausdruck. Du schienst gar nicht mehr so richtig da zu sein, wirktest irgendwie entrückt. Wir haben uns große Sorgen gemacht. Immer wieder wurdest du von Fieberschüben geschüttelt. Es war mühsam, dir wenigstens etwas Flüssigkeit zuzuführen. Dein Trinken hatte etwas Mechanisches. Gut, dass dich dein Schluckreflex nicht im Stich gelassen hat. Ansprechbar, warst du die ganze Zeit nicht.“

„Ich kann mich an gar nichts erinnern.“

„Komm erst mal zu dir. Ich werde Olga bitten, dir einen Tee zu machen.“

Claire nickte.

 

Im Laufe der nächsten Stunden kam Claire wieder ganz zu sich. Der Caldo hatte das seine dazu beigetragen, dass sie neue Kraft schöpfte.

Günter sah Claire lange an. Der Schein der Kerze gab ihrem Gesicht einen fast goldenen Schimmer.

„Kann ich dir etwas sagen“, wollte Günter wissen.

„Warum fragst du… sag’s doch einfach.“

„In den letzten beiden Tagen habe ich so manche Stunde an deinem Bett gesessen…“

Günter hielt inne.

„… und?!“

„Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Dein Gesicht schien ganze Geschichten zu erzählen. Es war, als sei ein Vorhang beiseite geschoben worden, als würde ein Schauspiel aufgeführt. Da war alles zu sehen: Freude und Schmerz, Glück und Traurigkeit. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob du träumst, wo du gerade bist, was du vor deinem inneren Auge erlebst.“

„Ich kann es dir nicht sagen… ich habe keine Erinnerung… nicht einen Gedankenfetzen.“

„Kurz bevor du zu dir kamst, veränderte sich dein Gesichtsausdruck. Wie nach einem langen und ansprengenden Kampf schien du endlich zur Ruhe gekommen zu sein. Dein Gesicht begann zu strahlen. Deine Gesichtszüge waren völlig entspannt. Ich habe zunächst einen Schrecken bekommen. Zuletzt habe ich Ähnliches beim Sterben meiner Mutter wahrgenommen. Ich war beruhigt, als ich deinen Puls noch ertasten konnte. Und wenig später bis du ja wieder aufgewacht.“

„Ich fühle mich immer noch erschöpft, wirklich so, als habe ich etwas sehr Kräfte Zehrendes hinter mich gebracht.“

Claire fielen die Augen zu und für einige Minuten konnte man den Eindruck haben, sie sei eingeschlafen. Günter fühlte sich seltsam aufgewühlt und hellwach. Eigentlich hätte er vor Müdigkeit umfallen müssen, hatte er doch in den beiden letzten Nächten kaum geschlafen.

Das Knattern eines vorüber fahrenden Autos schreckte beide auf.

 

„Darf ich dir etwas von mir erzählen?“

„Gerne, nur zu!“

„Vor einigen Jahren war ich auf Entdeckungstour, irgendwo fernab von allem im Hochland. Ich war mit einem Esel unterwegs und hatte Proviant für einige Tage dabei. Gleich am ersten Tag passierte etwas Merkwürdiges. Nach einem auch für meinen Begleiter mühsamen Aufstieg erreichten wir endlich die Passhöhe. Das letzte Stück war ich abgestiegen, um Pipe, wie ich den Esel kurzer Hand getauft hatte, etwas zu entlasten. Es war schon später Nachmittag. Die Sonne war seit geraumer Zeit hinter dem Bergkamm verschwunden. Als wir die Passhöhe erreichten, erfasste uns mit einer Wucht die uns entgegen strahlende Sonne, dass ich spontan anhalten musste. In der zurückliegenden Stunde hatte ich kaum noch auf die Umgebung geachtet. Ich spürte nur, wie mit jedem Schritt die Dunkelheit und einbrechende Kühle des Hochlandes mich mehr und mehr erfassten. Oben angekommen, war es, als würde ich in einen Feuerofen treten. Licht und Wärme hatten etwas Überwältigendes. Es musste am Vortag geregnet haben. Am Boden waren noch kleine Pfützen zu sehen. In ihnen spiegelten sich die Strahlen einer gleißenden Sonne. Als ich mich später noch einmal umdrehte, war mir, als glichen die Pfützen vielen kleinen Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Ich konnte in ihnen Teile der Landschaft um mich herum erkennen. Seitdem suche ich nach einem starken Regenguss förmlich nach Pfützen, um die kleinen Ausschnitte der Welt um mich zu betrachten.“

„Das erinnerte mich an etwas Anderes. Als Kind habe ich gerne in Pfützen gespielt, habe in sie hineingetreten, bin mit Anlauf in sie hineingesprungen und habe so lange in ihnen verweilt, bis sich die Oberfläche wieder beruhigt hatte und ich ganz klar in den wolkenverhangenen Himmel über mir schauen konnte. Nicht selten kam ich völlig durchnässt und verdreckt nach Hause.“

„Eigenartig, wie sehr wir Menschen doch häufig an den großen Dingen orientiert sind, wo Kleinigkeiten unser Herz so sehr erfreuen können.“

Eine Zeit lang schwiegen beide. Claire und Günter schienen ihren inneren Bildern nachzugehen. Claire war es, die das Schweigen brach.

„Günter, müsste du nicht schon längst wieder auf dem Heimweg sein.“

„Eigentlich schon. Aber ich habe beschlossen noch ein paar Tage dran zu hängen.“

„Welchen Wochentag haben wir heute?“

„Es ist schon Samstag.“

Bueno, dann kannst du mich ja Morgen begleiten. Ich bin zum Tejo eingeladen.“

„Gerne. Bislang habe ich diesem explosiven Volkssport nur von Ferne zugeschaut.“