spiegelungen II,XIV

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Trotz aller technologischen Errungenschaften
besitzt die moderne westliche Zivilisation kein wirkliches Verständnis vom Tod,
von den Vorgängen beim Sterben oder von dem, was nach dem Tod geschieht.
Rinpoche Sogyal – Das tibetische Buch vom Leben und Sterben

 

Claire erwachte am nächsten Morgen gerade in dem Moment, als die Sonne ihre ersten Strahlen in ihr Zimmer warf. Sie sah auf die Uhr. Es war noch recht früh. Es würde nicht vor neun Frühstück geben und so beschloss sie, einen kleinen Gang durch den Ort zu machen.

Es war angenehm frisch, als sie auf die Straße trat. Leichten Schrittes setzte sie einen Fuß vor den anderen. Unbewusst beschleunigte sie mit einem Mal ihren Schritt und begann zu hüpfen. Kurze Doppelschritte reihten sich aneinander.

Nach einer Weile kam sie etwas aus der Puste. Sie sah sich um. Außer einigen streunenden Hunden war niemand zu sehen. Sie holte tief Luft. Ihre Schultern hohen und senkten sich. Erleichtert, dass niemand sie beobachtet hatte, setzten sie ihren Weg fort. Und wenn schon, dachte sie, soll mich doch jemand gesehen haben. Ich fühle mich leicht und beschwingt. Warum soll das keiner mitbekommen. Ist das Hüpfen nur ein Privileg der Kindheit. Unwillkürlich begann Claire wieder zu hüpfen und bog auf die Straße Richtung Ortsmitte ein.

Auch die Plaza war noch menschenleer. So sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Erst als sie vor dem kleinen Springbrunnen in der Mitte des Platzes stand, nahm sie eine junge Frau wahr, die nicht weit von ihr angelehnt an einen Baum stand.

Claire näherte sich ihr von der Seite. Sie setzte ihre Schritte so sorgsam, dass sie nach Möglichkeit nicht wahrgenommen wurde. Es gelang ihr, sich bis auf wenige Meter anzunähern. Plötzlich drehte die junge Frau ihren Kopf, schaute sie einen Augenblick an, um sich dann wieder abzuwenden. Sie starrte vor sich hin. Claire versuchte zu erkennen, was es sein konnte. Sie konnte aber nichts ausmachen, selbst dann nicht, als sie neben ihr stand. Die junge Frau schien davon unbeeindruckt.

Als sie später Günter von dieser seltsamen Begegnung berichtete, konnte sie nicht mehr sagen, wie lange sie neben der jungen Frau gestanden hatte, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Es mussten einige Minuten gewesen sein. Endlose Minuten. Aber irgendetwas hielt sie fest und ließ sie nicht weitergehen.

Es dauerte, bis Claire klar wurde, dass die Frau nur vor sich hinstarrte, nicht konkretes vor Augen zu haben schien. Der Blick war seltsam nach außen gewandt und schien doch nichts als in sich gekehrt zu sein. Dies war wohl auch der Grund dafür, dass die junge Frau keinerlei Notiz von ihr nahm.

Die Lippen der jungen Frau bewegten sich in einem fort. Formten Worte, ohne sie auszusprechen. Ihr Auf und Ab, Hin und Her glichen einem Tanz. Ob es für all dies eine innere, gedankliche Entsprechung gab, etwas, das man in Worte fassen konnte.

Claire machte einen Schritt, um ihr Gesicht noch besser zu erkennen. Nun konnte sie ihr in die Augen schauen. Ein smaragdgrünes Funkeln. Claire hatten Eindruck in die Tiefe eines Bergsees zu schauen. Die Morgensonne reflektierte sich in ihren Augen. Lichtpunkte auf einer sich bewegenden Oberfläche.

Mit einem Mal fragte sich Claire, warum in der Welt, in der sie bisher gelebt hatte, das gesprochene Wort so hoch im Kurs stand. Worte, die alles und doch so oft nichts sagten. Worte, die einmal ausgesprochen, nicht mehr zurückzunehmen waren. Sie konnte sich erinnern, wie sie auf irgendeiner Wochenendreise ans Meer, neben einer flüchtigen Bekanntschaft gesessen und sich fast die komplette Fahrt in einem fort überlebt hatte, was sie sagen könnte. Vor allem ein Satz war es, den sie hin und her bewegte, aber bis zum Schluss nicht aussprach.

Manches Mal hatte sie sich beim Betreten ihrer Wohnung gefragt, was hätte sie jemanden zu erzählen, der erwartungsvoll auf sie warten würde. Im Grunde war sie froh, dass es diesen jemand nicht gab, denn sie wusste bei Leibe nicht, was sie hätte erzählen sollen.

Gab es einen Ausstieg der Gedanken, bevor diese Worte gefunden hatten. Waren es die Gedanken, die Worte bildeten, oder waren es die Worte, die Gedanken entstehen ließen.

Früher hatte sie eine Stelle aus der Bibel fasziniert: „Am Anfang war das Wort.“ Wobei, so hatte sie später herausgefunden, Wort nur eine mögliche Übersetzung war, die andere war Lehre, also in Konstruktion gefasste Gedanken.

Vieles, was Menschen sich zu sagen hatten, was sie mühsam stotternd in Worte kleideten, war kaum in der Lage, dass zu erschließen, was wie ein Lichtfunken, aus der Gedankenwelt eines Menschen manchmal nur für einen Bruchteil aufleuchtete, um dann für immer wieder unausprechbar zu bleiben.

Während Claires Gedanken sie für Augenblicke aus dem Hier und Jetzt rissen, musste die junge Frau sich unbemerkt entfernt habe. Claire sah sich suchend um, konnte die junge Frau aber nirgends ausmachen.

 

Auf ihrem Rückweg nahm sie den ihr mittlerweile vertrauten Weg am Bach entlang und blieb an einem Baum stehen. Sein Stamm musste vor kurzem ein heftiges Gewitter gespalten haben. Ihre Hand fuhr über aufgeborsteten Spalt, eine Art Streicheln, weniger einem zärtlichen Gefühl folgend als dem Bemühen, sich keinen der zahlreichen Splitter in einen Finger zu ziehen. Sie riss vorsichtig einen Stück ab und roch daran. Sie liebte den Geruch von frischem Holz. Sie nahm das Stück in den Mund und begann mit den Schneidezähnen darauf zu kauen. Eine leichte Süße entwich. Vermutlich würde es nicht lange dauern und jedes Leben wäre einem Teil des Baumes entwichen.

Claire war sichtlich berührt. Von innen fühlte sie, wie ein Schwall Hitze in ihr aufstieg. Es war anders als sonst. Es hatte nichts Unangenehmes. Es war als würde der absterbende Teil des Baumes seine letzte Energie an sie weitergeben.