Was gäb’ ich darum
die Welt in all ihrer Schönheit
nicht nur sehen
sondern ergreifen zu können.
Si Fue – Kaleidoskop
Das Kaleidoskop lag in ihrer Hand. Claire führte es immer wieder zu ihrem rechten Auge, hielt es in Richtung der Glühbirne an der Decke der Veranda und bewegte es sacht mal in die eine mal in die andere Richtung. Sie hatte es in der Schublade ihres Vaters vergraben unter einem der Notizbücher gefunden.
Günter sah ihr fasziniert zu, wie man einem Kind beim Spiel zuschaut. Das kindliche Spiel hatte für ihn etwas Magisches. Nicht nur, weil es ihn jedes Mal zurück in seine Kindheit katapultierte. Kindern gelang noch etwas, was mit zunehmendem Alter verloren ging: ein unmittelbares Verbundensein, mit dem was man gerade tat. Spielte man mit dem Ball, wurde man eins mit ihm, hüpfte, tanzte und macht dazu allerlei Geräusche. Und all dies ohne gleichzeitig etwas anderes zu machen, ohne den Impuls beim Tun schon gleich der Umwelt durch Kommentierung das Zusehende in den rechten Zusammenhang zu rücken. „Wir sehen hier…“ Was für eine Unart sagte er sich jedes Mal, wenn er sich irgendwelche Videoschnipsel anschauen musste. Manchmal war nicht mehr als ein Baum zu sehen und selbst das wurde dem vermeintlich unwissenden Zuschauer erklärt. Bisweilen hatte er den Eindruck, das Filmen diene allein dem Zweck, die eigene Stimme, wenn auch indirekt, hörbar zu machen.
Claire nahm wahr, dass sie beobachtet wurde. Sie brachte ihren Kopf in eine leichte Schräglage und sah Günter fragend an.
Günter lächelte sie an.
„Du erinnerst mich an die vielen spielenden Kinder, die ich im Laufe meines Lebens beim Spiel beobachten konnte. Früher habe ich mich gerne auf eine Bank gesetzt und Kinder beim Spiel zugeschaut, bis es irgendwann beargwöhnt wurde und ich unguten Gedanken von Müttern oder Vätern keinen weiteren Nährboden geben wollte.“
„Wie alt bin ich denn?“
Claires Stimme hatte etwas Kokettes. Dies verwirrte Günter. Er wandte sich für kurze Zeit ab und versuchte, die innere Fassung wieder zu finden.
Günter griff zur Flasche Wein und schenke Claire und sich nach. Es folgte eine Weile des Schweigens. Für beide schien es undenkbar, das Schweigen durch eine banale Bemerkung brechen zu können.
Endlose Augenblicke folgten. Die Anspannung stieg.
Irgendwann hob Günter wieder sein Kopf und sah Claire an.
„Bist du einsam?“
Diese Frage schlug bei ihr ein wie eine Bombe. Claire stockte der Atem. Als sie sich etwas gefangen hatte, öffnete sie den Mund, wollte etwas sagen. Ihrem Rachen entwich nur ein leises Zischen, so als entweiche einem kaputten Luftballon die letzte Luft. Sie versuchte sich zu erheben. Aber auch dies gelang ihr nicht.
Günter stand auf, stellte seinen Stuhl neben den ihren, setzte sich und nahm sie in den Arm. Schlagartig begann Claire heftig zu weinen. Es war, als habe die bloße Frage, eine Art chemische Reaktion und in deren Folge eine heftigen Explosion ausgelöst.
Die Verlegenheit über eine derartige Form der Annäherung, zumal noch eines für sie immer noch eher fremden Mannes, trat allzu schnell in den Hintergrund. Claire genoss die Umarmung, die gleichzeitig etwas Kräftiges und fast Zärtliches hatte. Sie gab ihr Halt und ließ sie schließlich Worte für das Knäuel an Gedanken und Emotionen finden.
„Ja, und wie einsam ich bin. Damals als mein Vater verschwand habe ich mir geschworen, mich nie wieder emotional an einen Menschen zu binden. Ich wollte frei, unabhängig und unbeirrt von anderen Menschen mein Leben gestalten. Bis vor kurzem hätte ich gedacht, dies sei mir auch gelungen. Ich würde mich nicht als gefühlskalt bezeichnen, bin aber nie eine feste Beziehung eingegangen. Die Angst irgendwann verlassen zu werden, war zu groß.“
„Und jetzt?!“
„Jetzt fühle ich eine tiefe Traurigkeit, weil ich weiß, dass ich die vergangene Zeit und ihre vielleicht verpassten Gelegenheiten nicht zurückholen kann.“
Wie es zu dem gekommen war, was in der weiteren Nacht geschah, konnte Claire am nächsten Morgen nur vage und unzureichend beschreiben. Günter war längst nicht mehr da. Ihn konnte sie also nicht fragen. Er war früh, selbst von Olga unbemerkt, aufgebrochen. Claire sollte ihn nie wieder sehen. Er erlag in der darauffolgenden Woche einem Herzversagen. Davon erfuhr sie erst viele Wochen später auf Umwegen. Das, was in jener Nacht geschah, sollte für sie jedoch unvergessen bleiben.
Das, woran Claire sich erinnern konnte, begann in jenem Augenblick, als sie sich bereits völlig entkleidet in den Armen Günters wiederfand. Zwei hungernde und dürstende Seelen begegneten einander. Weder die Unkenntnis von einander, noch der nüchtern betrachtet gravierende Altersunterschied, konnte sie zurückhalten. Es war ein Suchen und Finden. Ein sich Berühren und gleichzeitig wieder Loslassen. Kosten und Schmecken, ein Wispern und Schreien.
Nie zuvor hatte Claire so viel Lust in sich verspürt. Nie zuvor sich so bedingungslos und frei beiden hingeben können. Sie vergaß alles um sich herum. Jedes Gefühl von Raum und Zeit verlor sich.
Wie im kindlichen Spiel erkundete sie Günters Geschlecht. Sie streichelte es, leckte und sog daran. Sie erzitterte unter seinen Berührungen. Ihr Körper erlangte eine Geschmeidigkeit, vollführte Bewegungen, die ihr bis dahin unvorstellbar erschienen waren.
Zwischendurch wurde sie immer wieder ergriffen von heftigen Weinkrämpfen. Am Ende hatte sie das Gefühl, von einer Woge Glückseligkeit umspült zu sein.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, sich zu orientieren suchte, war Günter schon längst aufgebrochen und auf dem Rückweg in die Stadt. Auf dem Nachttisch lag ein kleiner Zettel. Auf ihm stand nur ein einziger Satz:
„Danke für dein Vertrauen.“