spiegelungen II,XVIII

Mosaik

Der Fisch errötet, überholt den Schwarm
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.
Ingeborg Bachmann – Erklär mir Liebe

 

An diesem Tag, kam Claire nicht mehr so recht auf die Beine. Selbst das Atmen fiel ihr schwer. Besorg suchte sie Olga immer wieder auf, erkundigte sich nach ihrem Befinden und zog meist ratlos von dannen.

In den ersten Stunden lag sie auf ihrem Bett, versuchte zu schlafen. Es gelang ihr nicht. In ihr kreisten unzählige Gedanken wie Nebenschwaden. Sie schwebte in Regionen, die sich noch nie betreten hatte. Schloss sie die Augen, nahm die Unruhe zu. Sie hatte dann den Eindruck, etwas ziehe sie mit aller Macht in einen tiefen Abgrund. Erschöpfung, die schon fast einer Lähmung glich, erfasste sie.

Fühlt sich so das Sterben an, fragte sie sich. Panik erfasste sie. So wollte sie nicht sterben, hinübergehen in eine Welt, die sie nicht kannte, von der sie aber gewiss war, dass es sie gab; anders als es ihr Religionslehrer oder ihr Konfirmationspfarrer hatten vermitteln wollen, aber nicht weniger real für sie. Ihr Bild davon war eher in der Art der alten Mythen. Die griechischen Sagen hatten es ihr von je her angetan. Als nüchterne Zeitgenossin war sie der Meinung, wenn schon erfunden, dann aber richtig.

Ihr kam eine alte Radierung von Gustave Doré in den Sinn.  Das Bild vom Fährmann Charon, der die Seelen der Verstorbenen über den Fluss Styx bringt, ist ihr noch gut in Erinnerung; ebenso der Brauch, den Toten eine Münze für die Überfahrt unter die Zunge zu legen, den sogenannten Obolus. In der Studentenzeit hatte sie eine Postkarte davon lange über ihrem Schreibtisch hängen.

Komisch, dachte Claire, dass sie, wenn es ihr besonders schlecht, oder irgendwie undefinierbar ging, gleich an den Tod denken musste.

Am Nachmittag verbesserte sich ihr Zustand allmählich. Es gelang ihr mehr und mehr, sich wieder im Hier und Jetzt zu verankern.

Damit breitete sich keineswegs eine Gedankenleere in ihr aus. Ganz im Gegenteil, der gestrigen Abend, was noch einmal mit allen Facetten präsent. Vor Jahren hätte sie den Abend noch als geschmacklosen Fehltritt abgetan, als eine Art geistige Umnachtung mit körperlichen Begleiterscheinungen infolge erhöhten Alkoholkonsums. In der Regel konnte sich in vergleichbaren Fällen am nächsten Morgen jedoch an wenig erinnern.

Jetzt aber waren ihr alle Details ihres gemeinsamen Liebesspieles noch deutlich vor Augen. Ihre Gedanken eilten zu den Ereignissen des gestrigen Abends und versuchten ins Gedächtnis zu rufen, wie und was im Einzelnen geschehen war.

Wie um sich abzulenken, öffnete sie die Nachtischschublade und griff zum Notizbuch ihres Vaters und begann zu blättern. Insgeheim suchte sie nach irgendwelchen Bemerkungen über Günter. Wollte sie sichergehen, dass er nicht der alternde Verführer war, ihre Annäherung also etwas absolut Einzigartiges offenbarte.

Claire fand beim hastigen Blättern Günter nur zweimal erwähnt. Das eine Mal war nur eine kurze Notiz darüber zu lesen, dass er am kommenden Tag zu Besuch kommen würde. Und die zweite Stelle hatte sie bereits gelesen. Sie war irgendwie erleichtert.

Aber auch das Blättern war nur Ablenkung und brachte sie nicht einen Erkenntnsischritt weiter. Wenn es mehr war als ein spontaner Akt fehlgeleiteter Neuronen, dann musste sie ihn wiedersehen. Aber wie, wollte sie dies anstellen? Sie hatte keine Telefonnummer und wusste nur, dass er am Rande der großen Stadt lebte.

Papa, was hast du mir nur angetan? Ohne, dass ich dir dies als bewussten Akt unterstellen könnte, denn schließlich bist du eines natürlichen Todes gestorben. Nicht ganz, dachte sie.

Gab es eine Seelenwanderung auch zu Lebzeiten? Diese Frage kam ihr plötzlich in den Sinn. Sie hatte keine Münze unter Zunge, konnte aber noch vorsichtshalber nach einer greifen. Vielleicht erging es ihr ja gerade umgekehrt: Sie war aus dem Reich der Toten auf dem Weg ins Reich der Lebendigen. Sie fühlte sich wie ein Fisch in der Weite des Ozeans. Verloren und vergessen von allen, die ihn bisher durch die Weltmeere begleitet hatten. Was würde näher liegen, als sich wirklich auf das Totenbett zu begeben und sein eigenes Ende in Ruhe abzuwarten.

Bei aller Kraftlosigkeit, die sie verspürte, etwas rebellierte gegen solche Gedanken, verwarf sie, ohne den Blick schon für die Zukunft frei zu geben, ohne eine Tür zu öffnen, durch deren Spalt ein Lichtstrahl neues Leben verkündet.

Nun gut, ich will mir selbst Mut machen. Wir sind auf der Überfahrt. Und die hat ihre eigene Dramaturgie. Ich will gelassen bleiben, nicht in Panik geraten, nur weil das, was auf mich zukommt, nicht mit meinem bisherigen Leben in Einklang zu bringen ist.