spiegelungen II,XIX

Mosaik

Du hast gehofft, dein Lohn ist abgetragen,
Dein Glaube war dein zugewognes Glück.
Du konntest deine Weisen fragen,
Was man von der Minute ausgeschlagen,
Gibt keine Ewigkeit zurück.
Friedrich Schiller – Resignation

 

Das Bild von der Überfahrt ging Claire noch lange nach. Gewöhnlich konnte man auf Reisen nur einen Bruchteil dessen mitnehmen, was einem im Alltag lieb und teuer war, oder gar unverzichtbar schien.

Sie sah sich vor dem geöffneten Koffer stehend, in jenem Moment, da sie vor kurzem noch im Begriff gewesen war, ihren Koffer zu packen. Dabei die immer wiederkehrenden Fragen wie ein heiliges Mantra vor sich hin rezitierend: Was nehme ich mit? Was brauche ich? Worauf kann ich verzichten?

Verzicht, ja darum ging es in Wirklichkeit. Der Augenblick vor Reisebeginn war im Grunde mit nichts anderem verbunden. Worauf könnte sie im Zweifel verzichten?

Diese Frage an der Wahl der Kleidungsstücke fest zu machen, schien ihr ein passender Vergleich. Auch im Leben galt es diese immer wiederkehrende Frage zu beantworten: Was brauche ich und worauf kann ich oder sollte ich besser doch verzichten?

Manches von dem, das wurde ihr in diesem Augenblick klar, was sie seit Jahren mit sich herumschleppte, war wie eine Münze. Es gab die schöne Seite, den Teil, den sie schätzte, der unverzichtbar schien. Da war aber auch die andere, eher unangenehme Seite, jene mit den Begleiterscheinungen. Es gab diese Münzen, die jeder sein Eigen nennen wollte, deren Begleiterscheinungen aber keiner zu tragen bereit war. Von welcher Gestalt war jene Münze, die man einst den Toten unter die Zunge legte? Was zeigte sie?

Auch jene Münze musste wie jede andere zwei Seiten gehabt haben. Dies war nicht zu leugnen. Aber, was zeigten sie? Was hielten sie als Quintessenz des Lebens, allen je gemachten Erfahrungen fest, das so wertvoll war, was man es den Toten auf ihrer Reise ins Jenseits mitgab? Gab es diese eine Grunderkenntnis des Lebens, die allen Menschen gemein war? Oder war eine Seite – vielleicht waren es auch beide – ganz und gar ohne Abbildung. Wie Odin, jener alter zum Orakel bestimmte Runenstein.

Wenn persönlicher Verzicht der Einsicht in die eigenen und persönlichen Zusammenhänge geschuldet war, dann war sie nun ausgelöst durch ihre Reise vor die Frage gestellt, womit sie den Koffer ihres Lebens fortan anzufüllen gedachte.

Manches von dem, was sie sich in den letzten Jahrzehnten nach und nach aufgebaut hatte, schien noch dazu gehören zu können. Ihre manchmal bis an die Grenze der Ohnmacht gehende Wut auf Familie im Allgemeinen und auf ihren Vater im Speziellen hatte sich gewandelt. Die letzten Tage hatte sie bereits damit begonnen, sich mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen. Schmerz und Trauer waren nicht weggewischt. Das Gewahrwerden jener anderen Seite ihres Vaters hatte sie versöhnlich gestimmt und den Blick gleichsam umgelenkt. Sie war bereit loszulassen.

Nun galt es, das Ufer des Zukünftigen in Augenschein zu nehmen, voller Hoffnung und Erwartung.

Der Gesang der zur Messe versammelten Gemeinde ließ sie aufhorchen. Ihr abendlicher Spaziergang hatte Claire nochmals auf die Plaza geführt. Die Kirche lag in den tiefen und intensiven Farben der untergehenden Sonne.

Sie betrat die Kirche durch die weit offenstehen Haupttüren. Ihr kam eine fröhliche Stimmung entgegen. Die Besucher sangen und klatschten zu dem gerade gesungenen Lied. Claire bliebt zunächst im Eingangsbereich stehen, um sich an die anderen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Dann hielt sie Ausschau nach einem freien Platz. Recht weit vorne waren noch einige Reihen in den Kirchbänke fast unbesetzt.

Der Priester war gerade im Begriff die Wandlung zu vollziehen, als sie Platz nahm. In den folgenden Minuten orientierte sie sich an einem älteren Herrn, neben dem sie Platz genommen hatte. Sie stand auf, wenn er sich erhob, setzte sich, wenn er sich wieder setzte und kniete nieder, wenn er es ihr vormachte.

Die katholische Messform war ihr als Protestantin immer noch fremd. Dennoch fühlte sie sich nicht ausgeschlossen. Die Streitigkeiten, die in der Kirchengeschichte zu Kirchenspaltungen geführt und in ihrer Folge Unterschiede in der Glaubenspraxis hatten entstehen lassen, waren für sie im Grunde nebensächlich.

Beim Friedensgruß umarmte sie der ältere Herr und drückte sie herzlich an sich. Als sie sich wieder von einander lösten, sah dieser sie mit einem freundlichen Lächeln an. Sie erwiderte sein Lächeln.

Im Rausgehen zündete sie noch eine Kerze vor der Jungfrau Maria an. Ich bin bereit, dass anzunehmen und wieder wirken zu lassen, was du mir an Kraft und Liebe mitgegeben hast, dachte Claire, als sie die Kirche verließ.

Ihr kam der Duft gegrillter Würstchen von einem kleinen Stand auf der Plaza entgegen. Ganz entgegen ihre sonstigen Gewohnheiten kaufte sie eines und aß es mit Heißhunger. Der Verkäufer versuchte sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie verstand nur Alemania und nickte freundlich.

Eine Weile blieb sie noch auf einer Bank am Rande der Plaza sitzen und schaute dem Treiben der Menschen zu, die sich wie sie nach dem Gottesdienst an dem einen oder anderen aufgebauten Stand aufhielten, aßen und tranken.

Weniger Meter von ihr entfernt hörte sie fröhliche Musik. Ein Herr hatte gerade seinen mitgebrachte Musikanlage, die enorm viel Krach machte, zum Laufen gebracht. Er streckte Claire eine Hand entgegen, ganz offensichtlich eine Einladung zum Tanz. Claire zögerte zunächst, verwarf die spontane Lust zum Tanzen. Warum nicht, dachte sie dann.

In den folgenden Minuten wurde sie hin und her gewirbelt. Claire versuchte nicht bei jedem Schritt, dem Herrn auf die Füße zu treten. Irgendwann hatte sie sich an die für sie fremde Schrittfolge gewöhnt. Mit jeder Drehung, die sie vollführten, war es ihr, als würde sie in immer höhere und höhere Sphären katapultiert. Sie strahlte und war glücklich.

Me llamo Pablo!“, warf der Herr ihr entgegen.

Me llama Claire!“, konnte sie antworten.

Was für geschenkte Augenblicke, dachte Claire, als sie verschwitzt und immer noch außer Atem die Veranda betrat und Olga in ihrem Schaukelstuhl so herzlich und schwungvoll umarmte, dass beide fast hinten über gekippt wären.