Das Herz eines Menschen ist wie ein Vogel,
eingesperrt in den Käfig des Körpers.
Wenn du tanzt, singt das Herz wie ein Vogel,
der sich danach sehnt, mit Gott eins zu werden.
Eric-Emmanuel Schmitt – Monsieur Ibrahim und die Blume des Koran
Claire war froh, die Einladung zum Tanz nicht ausgeschlagen zu haben. Solchen Gelegenheiten kommen nie wieder, dachte sie.
Die Melodie des Tanzes schwirrte immer noch in ihrem Kopf. Summend versuchte sie sich an die Schrittfolge zu erinnern und begann sich kreisend zu bewegen. Erst als ihr leicht schwindelig wurde, ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Dennoch hatte sie den Eindruck, sich weiter und weiter zu drehen.
Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild tanzender Männer. Es waren jene sich unablässig bis zur Ekstase drehenden Derwische. Vor kurzem hatte sie noch eine Dokumentation über den Mevlevi-Orden in der Türkei gesehen.
Die Männer erschienen vor ihr mit ihren imposanten weißen Gewändern und den überdimensionierten Hüten. In ihrem Tanz drehten sie sich derart schnell, dass ihr schon beim bloßen Zusehen schwindelig wurde. Sie konnte sich gut erinnern, dass sie den Kopf geschüttelt hatte, als der Kommentator davon sprach, die Mönche würden diesen Tanz als Meditation vollziehen, um mit Allah in Kontakt zu treten.
Entspannt auf dem Bett liegend begann sie darüber nachzudenken, ob es nicht an der Zeit war, ihre Haltung der Religion und den mit ihr verbundenen Umgangsformen zu überdenken. Nicht zuletzt die kurze Stippvisite in der Kirche hatte sie innerlich geöffnet. Der Tanz hatte das seine dazu beigetragen. Sie fühlte sich innerlich aufgerüttelt. Nicht nur ihre Wahrnehmung war geschärft, die Gedanken, die ihr durch den Kopf schwirrten waren unsortiert, jedoch von einer seltenen Klarheit.
Ihre Gedanken hüpften hierhin und dorthin. Sie versuchte sich an die Zeiten zu erinnern, in denen sie mit Kirche und Religion in Berührung gekommen war. Sie dachte gerne an die Grundschulzeit zurück.
Nie wieder in ihrem Leben hatte sie einen so unmittelbaren und positiven Zugang zu allem Religiösen und dem gehabt, was der ortansässige Pfarrer zu erzählen hatte.
Claire gehörte zu einem kleinen Kreis der Evangelischen und man traf sich zur Religionsstunde aus allen Klassen eines Jahrgangs in einem eigenen Raum. Kaum hatte es geklingelt, ließ sie alles stehen und liegen, flitzte wie von der Tarantel gestochen die Treppen aus dem Erdgeschoss in den Religionsraum im ersten Stock, wo sie Pfarrer Windschild schon mit einem Lächeln erwartete. Sie saß stets in der ersten Reihe und lauschte ihm mit weit aufgerissenen Augen und feurigen Wangen.
Wie hatte sie alles, alle Geschichten, angefangen von der Schöpfung, über die Arche Noah bis Moses, Daniel und Jona vergessen können. Wie leichtfertig man doch mit dem umgeht, was uns einst in den Kindertagen erfüllt hat, musste sie sich eingestehn.
Sind es nicht gerade diese Augenblicke die uns für das Leben vorbereiten, fragte sie sich. Das, was uns voller Zuversicht in die Zukunft schauen lässt, weil das in uns angelegte Urvertrauen Stück um Stück gestärkt wird.
Wie hatte sie nur so nachhaltig das kleine Kind in sich aus ihrem Leben verbannen wollen. Gleichwie ihr Familienleben auch ausgesehen haben mochte, vielleicht war dieses kleine Kind ganz dicht an jenen Urbausteinen gewesen, die ein Leben ausmachen und im Innersten zusammenhalten. Gehörte es nicht zu den Urirrtümern, alles hinter lassen zu wollen, was Kindheit ausgemacht.
Lag darin auch so etwas wie der Schlüssel der letzten Tage, dass sie bereit war, sich ihrer Vergangenheit und damit dem kleinen Kind in ihr zu stellen.
Claire holte tief Luft. Ein emotionaler Schwall erfasste sie, ließ sie innerlich erzittern. Sie begann zu weinen. Es war ihr als spüre sie etwas von dem, was einst Adam und Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies gefühlt haben mussten. Nun spürte sie ihre eigene Vertreibung, jene von ihr selbst vor Jahrzehnten inszenierte und nie in Frage gestellte Vertreibung aus dem Paradies, dass einst auch in ihr angelegt worden war.
Alles, was sie über die Jahre als Akt größter Selbstbestimmung gesehen hatte, war mit einem Mal wie weggewischt. So, als habe es in Wahrheit nie existiert. Wie, wenn sich ein Nebelschleier endlich lüftet und die Sicht frei gibt, sah sie sich als kleines Kind, schutzlos, hilfesuchend, die Hände nach den elterlichen Armen ausgestreckt.
Sie konnte ihren Eltern alles Mögliche vorwerfen, nur dieses eine nicht: Sie hatte durch sie viele Jahre Liebe, Fürsorge und Geborgenheit empfangen – bedingungslos.
Claire wurde heißt. Eine ungeheure Hitze erfasste sie von den Zehenspitzen bis zum Scheitel ihrer kurzgeschnittenen Haares.
Tränen liefen und liefen. Zwischendurch vergaß sie zu atmen, musste innehalten, versuchen wieder zu Atem zu kommen, bevor der nächste Schwall an Tränen aus ihr hervorbrach.
Zeitweise hatte sie das Gefühl sie löse sich auf. Es war, als fege ein ungeheures Unwetter über sie hinweg, während gleichzeitig die Sonne erstrahlt und die wunderbaren Farben eines Regenbogens sichtbar werden lässt.
Vielleicht war es auch etwas, was hinweggeschwemmt wurde. Endlich aus ihr hervorbrechen konnte.
Seltsamerweise, war es nicht nur die Tragik ihres bisherigen Lebens, die sie weinen ließ. Die Tränen waren Traurigkeit und Erleichterung in einem. Es waren keine Freudentränen. Sie hatten dennoch etwas Befreiendes.
Mit einem Mal war sie jenem Urvertrauen in das Leben ganz nah. Sie fühlte sich getragen. Gott ist es, der mich trägt, dachte sie.
Und da dachte Claire an jenen Satz, den sie in einem Rollenspiel zur Arche Noah damals hatte sprechen müssen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“
Claire schlief erschöpft ein.
Als sie wieder erwachte, sie konnte nicht sagen, wie spät es mittlerweile geworden war. Es bereits dunkel. Claire fühlte sie sich leicht und unbeschwert. Sie musste an eine Feder denken, die der Wind dahin trägt.
Während sie diesem berauschendem Gefühl noch nachging, erschien im Lichtschein der Straßenlaterne, der durch das Fenster trat und auf die vom Bett gegenüberliegenden Wand fiel, wie von Geisterhand geschrieben der Schriftzug: Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Mein Konfirmationsspruch, dachte sie.
Ist dies das Menetekel meines Lebens, fragte sie sich.
Im ersten Moment erschrak sie, denn die biblische Geschichte von König Belsazar stand ihr noch deutlich vor Augen.
Wie nur, wenn dies wirklich ein Zeichen ist?