Claire erwachte mitten in der Nacht.
Die Bilder eines Traumes schreckten sie auf. Zwanghaft versuchte sie die Augen offen zu halten. Sie wollte nicht zurückfallen in dieses wilde Spiel wirrer Gedanken und Vorstellungen.
Ein kalter Schauer durchzuckte sie. Sie schnappte nach Luft, wie einst ihr Goldfisch, der eines Tages aus seinem runden Domizil sprang, auf dem Teppich landete und noch rechtzeitig in sein Reich zurückgesetzt werden konnte.
Vor ihren inneren Augen erschienen die unwirklichen Bilder der letzten Szenen ihres Traumes. Sie war hin und hergerissen, wollte sehen und gleichzeitig vergessen.
Was zog sie so sehr in den Bann?
Was ließ Menschen an Orten unfassbarer Unglücke und Katastrophen verweilen. Im Nu versammelten sich Menschenscharen, kam es auf Autobahnen zu kilometerlangen Staus, weil alle beim Vorüberfahren nochmals genau hinsehen wollten. In letzter Zeit, so hatte sie gehört, zückten Vorbeifahrende ihre Handys und schossen Fotos, die im nächsten Augenblick schon rund um die Welt gingen, lange bevor Einsatzkräfte vor Ort waren und sich ein Bild machen konnten.
Nun lag sie selbst mit aufgerissenen Augen auf ihrem Bett, wollte nicht zurückfallen in den Traum, befürchtete das Grauen könnte nochmals seinen Anfang nehmen und war doch gleichzeitig bemüht den Rückspulknopf zu bedienen, um alles nochmals genau mit ansehen zu können.
Sie stand am Straßenrand und schaute dem rollenden Wagen nach, der langsam die Fahrt beschleunigte und dem nahenden Abgrund zurollte. Auf der Fahrerseite wachte ein Jemand auf, erfasste die Situation zunächst nicht. Sah nur sie am Straßenrand stehen und lächelte ihr zu. Ihr war, als riefe er ihren Namen. Dieser Jemand glich ihrem Vater. Als ihr Vater der Gefahr gewahr wurde, war es schon zu spät. Der Wagen schoss über die Seitenböschung hinaus und verschwand. Wenig später war der Aufprall als dumpfer Knall zu hören. Wie angewurzelt stand sie da. Unfähig nur einen Schritt zu machen. Vor Entsetzen schloss sie die Augen und sah deutlich, die letzten Minuten vor sich. Offensichtlich hatten sie auf einer Tagesfahrt durch das Bergland in einer Haltebucht angehalten, waren beide vor Müdigkeit eingeschlafen. Und dann sah sie deutlich jene Szene vor Augen, die zum Unglück geführt hatte. Sie sah sich mit einer Hand erst den Gang und dann die Handbremse lösend, mit der anderen die Tür öffnend und mit einem schnellen Satz aus dem Wagen springen.
Als Claire sich ein wenig gefasst hatte, kam ihr jene alte Eintragung in ihrem Tagebuch in den Sinn, vor vielen Jahren im Anflug von Wut und Ärger verfasst. Sie war innerlich bestürzt, konnte nicht glauben, was sich wenngleich nur in ihrem Traum ereignet hatte. Auch wenn keiner daran Anteil hatte, war sie tief beschämt.
Sie öffnete die Schublade und griff nach dem Notizheft ihres Vaters. Fieberhaft suchte sie ihren Namen, wollte irgendetwas lesen, was ihre Gedanken besänftigen konnte.
Auch wenn ihr Name nicht erwähnt wurde, las sie die folgenden Zeilen im vollen Bewusstsein, dass niemand anderes als sie selbst gemeint war:
Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Dies ist mir heute klar. Nun lebe ich schon viele Jahre in diesem Land und der Schmerz von damals ist immer noch lebendig. All die Jahre habe ich doch auf dieses eine Zeichen von ihr gewartet. Es hätte mich besänftigt. Ich werde wohl nie den ersehnten Frieden finden. Er wird mir versagt bleiben. Wahrscheinlich ist sich dessen gar nicht mal bewusst. Wir haben nie darüber gesprochen? Dieser eine Satz in ihrem Tagebuch, hat mein ganzes Leben verändert. Ich fühlte mich getrieben, wollte nur noch weg, wollte weder bewusst noch unbewusst dazu beitragen, dass dieser Satz seine Wirkung entfalten konnte. Aber indem ich floh, man stelle sich vor, vor einem Satz, aus nicht mehr als vier Worten bestehend, war ich im Grunde bereit, mich selbst aus ihrem Leben zu löschen.
Claire konnte nicht glauben, was sie las. Sie wollte laut aufschreien, aber ihrer Kehle entwich nur ein müdes Krächzen.