spiegelungen III,III

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Ja, ich kann zwei Gesichter haben,
aber ich kann sie nicht gleichzeitig haben.
Milan Kundera – Die Identität

Benommen erwachte Claire am nächsten Morgen. Sie fühlte sich irgendwie elend. Erst der Traum und dann die Zeilen ihres Vaters hatten sie sichtlich mitgenommen.

Für einen Augenblick wünschte sie sich, die Zeit nochmals zurückdrehen zu können. Was wäre dann anders? Wäre überhaupt etwas anders verlaufen? Wahrscheinlich nicht, denn aus ihrer Sicht hatte sie alles so gemacht, wie es in ihren Augen folgerichtig gewesen war. Manches hatte sich geradezu aufgedrängt. Warum fiel es ihr dennoch so schwer, die Dinge, die geschehen waren, einfach so anzunehmen, wie sie gewesen waren?

Sie stand auf und ging duschen. Lange stand sie unter der Dusche. Sie fühlte sich im wahrsten Sinne des Wortes dreckig. Es schien, als versuche sie immer und immer wieder alle Schuld von sich abzuwaschen. Innerlich wusste sie, dass dies ein heilloses Unterfangen war.

Trotz allem sehnte sie sich nach einem einzigen Augenblick, in dem sie ihrem Vater nochmals von Angesicht zu Angesicht ins Auge schauen konnte. Sie wollte sie in seinen Armen verstecken, die väterliche Wärme und Geborgenheit spüren und um Vergebung bitten.

Ich vergebe dir, sagte etwas in dir. Sie begann zu zittern, drehte das Wasser ab, schlang das Handtuch um sich und ging in ihr Zimmer zurück.

Sie ließ sich aufs Bett fallen und wurde von einem heftigen Weinkrampf erfasst.

Gestärkt durch ein gutes Frühstück, verließ sie am spätern Vormittag das Haus. Im Hinausgehen wünschte Olga ihr einen guten Tag. Sie drehte sich um, ging auf die kleine alte Frau zu und umarmte sie. Erneut kamen ihr die Tränen. Olga hielt sie fest und streichelte sanft über ihren Rücken. Die Nähe tat Claire gut. Sie fühlte sich geborgen, wenngleich sie kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten, irgendwie verstanden.

Auf der Kaffeeplantage saß Claire lange im Schatten einer Bananenstaude und sah den Arbeitern beim Pflücken zu. Die Arbeiter nahmen nicht weiter Notiz von ihr.

Während der Mittagspause kam ein junger Arbeiter auf sie zu und reichte ihr eine Schale Reis mit Huhn. Claire bedankte sich mit einem Lächeln und freundlichem Nicken.

Als sie den ersten Löffel Reis nahm, merkte sie wie ausgehungert sie war. Sie hatte gut gefrühstückt, aber offensichtlich hatte dies nicht lange vorgehalten.

Mit Klienten, die häufig von ihren Essgewohnheiten erzählten, von einem unbändigen Hunger zu allen nur möglichen Tageszeiten zu berichten wussten, sprach sie oft über die tieferen Bedeutung des Essens, von oraler Befriedung, von Ersatzhandlungen, weil der Alltag so viel zu entbehren hatte.

Ja, ich habe Hunger, sagte sie zu sich. Hunger nach Zuneigung. Sie horchte in sich hinein. Sie spürte eine Sehnsucht nach einer intensiven Begegnung. Sie wünschte sich jemanden an ihre Seite, wollte nichts weiter als Halt und Geborgenheit spüren. Bedingungslos.

Claire bekam nicht sogleich mit, dass der junge Mann zurückgekehrt war uns sich neben sie gesetzt hatte. Sie hatte zu Ende gegessen, die Schale längst neben sich gestellt und war noch ganz in Gedanken, als er sie ansprach.

„Me llamo Juan Felipe.“

„Claire“, antwortete sie mit einem Lächeln.

Was in den nächsten Minuten geschah folgte keiner vorhersehbaren Dramaturgie. Hätten beide nicht geschützt, außerhalb des direkten Blickfeldes der anderen Arbeiter gesessen, wären Reaktionen der anderen sicherlich nicht ausgeblieben.

Ohne weiter darüber nachzudenken, was sie da tat, ließ Claire ihren Kopf in den Schoß des jungen Mannes fallen. Und er ließ es geschehen. Er nahm ihren Kopf und hielt mit der einen Hand, während die andere Hand sich zaghaft ihrem Gesicht näherte und es zu streicheln begann. Sie schloss die Augen und verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit.

Claire roch den Schweiß eines verschwitzten und hart arbeitenden Kaffeebauern. Es hatte nichts Unangenehmes. Wie sehr war sie selbst immer bedacht, für andere nicht riechbar zu sein. Sie fand es unangenehm, wenn sie sich selbst roch und unternahm alles, um dies wenn möglich auszuschließen.

Nun sog sie Zug um Zug in sich hinein, während er mit ihren Haaren zu spielen begann. Strähne um Strähne drehte er zwischen den Fingern zu kleinen Locken. Sie nahm die kleinen Kreisbewegungen auf und bewegte den Kopf mal in die eine mal in die andere Richtung.

Claire hielt die Augen beschlossen. Sie spürte dennoch, wie der Blick des jungen Mannes auf ihr ruhte. Was er wohl dachte, fragte sie sich. Gerne hätte sie ihn danach gefragt.

Als sie die Augen irgendwann öffnete und ihn direkt ansah, ging ein leichtes Zucken durch sein Gesicht. Der junge Mann hielt ihrem Blick stand.

Du hast Augen wie Kaffeebohnen, so dunkel, dachte sie.

Erst jetzt, wo sie ihn genauer betrachtete, nahm sie wahr, das er doch nicht so jung, wie auf den ersten Blick aussah. Sie sah in sein Sonne gegerbtes Gesicht, dass sich kaum abhob von seinen kaffeebraunen Augen. In seinen Augen war ein Funkeln zu sehen. Es war ihr, als könne sie ganz tief in ihn hineinschauen. Für Augenblicke verlor sie sich in seinen Augen.

Als Claire sich wieder erhob und aus dem Schatten in die immer noch heiße Nachmittagssonne trat, war sie längst wieder alleine. Nachdem Juan Felipe aufgestanden und sich mit einer zaghaften Verbeugung verabschiedet hatte, war sie noch lange sitzen geblieben. Zunächst hatte sie ihm nachgeschaut, bis er hinter den nächsten Stauden verschwand. Dann war sie dem gerade Erlebten nachgegangen, hatte die intensiven Eindrücke in sich nachklingen lassen.

Claire versuchte sich zu erinnern, ob sie Juan Felipe im Dorf schon gesehen hatte, konnte sich aber nicht recht erinnern.

Sie musste über sich schmunzeln. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Vater, wie er ihr wohlwollend von Ferne zuzwinkerte.

Das Grauen der Nacht war verflogen. Die Begegnung mit Juan Felipe hatte Claire versöhnt. Es gibt wohl doch noch eine andere Seite an mir, etwas, das interessant für jemand anderen sein kann. Sie war glücklich, etwas von ihrem Ich hatte gezeigt haben zu können, wenngleich einer ihr fremden Person.

Warum gelang es ihr so selten, anderen ihr wahres Gesicht zu zeigen? Lag es an ihr, oder an ihrer Umgebung? Manches Mal in den zurückliegenden Jahren hatte sie den Eindruck, sie sei überall nur Teil eines Ganzen, im Beruflichen wie Privaten.

Der Blick Juan Felipes jedoch hatte nur ihr gegolten. Seit langem hatte sie keiner mehr so angesehen. Sie allein, ganz persönlich.