spiegelungen III,IV

TRR_9832

Wenn Gras über mich gewachsen ist
dann werd ich ein Garten.
Von Brücken – Die Parade

 

Lange stand Claire am nächsten Morgen vor dem Spiegel. Ihr Blick hielt ihrem Spiegelbild stand. Sonst war sie geneigt, sehr schnell wieder wegzuschauen. Warum sollte sie sich betrachten. Sie kannte sich doch.

Was sie sah, erstaunte sie. Ihr Gesicht strahlte Vitalität aus. Aus der braunen Ebene leuchteten zwei lichtblaue in mattweißen Ovalen funkelnde Regenbogenhäute, in deren Mitte zwei tiefschwarze Punkte schwammen.

Fasziniert von dem was sie sah, näherte sich ihr Kopf dem Spiegel, bis ihr Blick verschwamm und ihr leicht schwindelig wurde.

Sie ging wieder auf Abstand und schmunzelte.

Vor ihrem inneren Auge sah sie ein anderes Bild aufsteigen. Sie sah, wie sich zwei Köpfe aufeinander zu bewegten, solange, bis sich beide Nasenspitzen berührten.

Claire hörte ihren Vater fragen: „Kennst du den Einäugigen?“ Claire erinnerte sich, wie ihr Vater die Antwort gar nicht erst abgewartet hatte, sondern sie ohne Worte aufgefordert hatte, sich ihm mit dem Kopf zu nähern. Und, als sie kurz davor war, seine Nasenspitze zu berühren, passierte das Unfassbare, seine beiden Augen verschwammen zu einem einzigen großen Etwas. Irritiert hatte sie sich zunächst schnell wieder abgewandt. Der Anblick hatte etwas Beängstigendes. Ein Augenzwinkern ihres Vaters reichte jedoch, um das Spiel mit wachsender Faszination fortzusetzen. Am Ende wollte sie mit dem Spiel gar nicht mehr aufhören.

Claire war noch ganz in Gedanken, als sie Olgas Stimme hörte.

Tienes un visitante.“

Ya voy“, hörte sie sich antworten.

Als sie auf die Veranda trat, stand da Juan Felipe. Er begrüßte sie. Claire wusste nicht recht, was sie antworten sollte und nickte einfach.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie verstanden hatte, warum Juan Felipe gekommen war. Offensichtlich wollte er sie mit auf die Kaffeeplantage nehmen.

Unschlüssig, ob sie auf seine Offerte eingehen sollte, sah Claire Olga an. Sie sah ein aufmunternd nickendes Gesicht. Olga zwinkerte kaum wahrnehmbar mit dem linken Auge.

In den folgenden Tagen sollte Juan Felipe sie regelmäßig in der Frühe abholen.

In diesen Tagen lernte sie viel über das Pflücken der schwarzroten Kaffeekirschen. Warum nur die tiefroten Kaffeekirschen gepflückt wurden, auch wenn es ihr einfacher schien, gleich alle mit einem Mal abzuernten. Die Kaffeefinca war für ihre außergewöhnliche Qualität bekannt, erklärte ihr Juan Felipe. Dies habe zur Folge, dass bei der Ernte äußert sorgsam gepflückt werden müsse. Schon manche Kaffeebauer sei entlassen worden, weil er seinen Tagesertrag durch einige noch grünrote Kirschen hatte aufbessern wollen.

In den Mittagspausen saßen sie meist abseits unter einer Bananenstaude. Dies war der Augenblick auf den sie sich jedes Mal schon am Morgen beim Gang zur Plantage freute. Und wie beim ersten Mal legte sie stets nach dem Mittagsmahl wie selbstverständlich ihren Kopf in Juan Felipes Schoß.

Die anderen hielten sie bald für ein Paar. Juan Felipe zogen sie nicht selten mit eindeutig kreisenden Hüftbewegungen auf. Meist machte er eine abweisende Handbewegung, bisweilen auch einen energischen Schritt auf den Provozierenden zu.

Claire genoss diese Zeit. Sie liebte es, wenn seine Hände ihr Gesicht berührten. Es störte sie nicht, was die anderen dachten.

Gelegentlich begann Juan Felipe zu singen. Leise, kaum hörbar vernahm sie seine dunkle seidige Stimme. Sie verstand selten ein Wort. Es war seine Stimme und der Rhythmus, der sie tief bewegte.

Während er sang, betrachtete sie ihn von unten, sah die Stoppeln seines Dreitagebartes, seine vollen Lippen, seine eher zierlich wirkende Stupsnase und über den in die Ferne schauenden Augen die buschigen Augenbrauen.

Auch wenn sie kaum an sich halten konnte, wahrte sie Abstand, ließ ihren Gedanken nur in ihrer Phantasie freien Lauf.

Stets stand er nach der Pause zuerst auf, reichte ihr beide Hände und half ihr auf. Auch hier wahrten beide Distanz, wenngleich ihr war, als würde der Abstand zwischen ihnen von Tag zu Tag Millimeter um Millimeter abnehmen.

So verging mehr als eine Woche, in der Claire erschöpft von der Arbeit nach Hause kam, Olga sie mit einem stärkenden Mahl empfing, schweigend bei ihr sah, sie die ganz Zeit mit einem wissende Blick ansah, so, als habe sie den ganzen Tag versteckt hinter einer Staude zugeschaut.

Zu Beginn der zweiten Woche suchte sie auf dem Rückweg von der Plantage das Internetcafé des Ortes auf und schrieb ihrer Chefin eine kurze Nachricht. In ihr teilte sie ihr mit, dass sie vorläufig nicht zurückkehren würde und in der sich gleichzeitig um unbezahlten Urlaub bat.

Zu ihrem Erstaunen konnte sie wenige Tage später die zustimmende Antwort ihrer Chefin lesen.

„Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du so schnell wiederkommst. Mach dir keine Gedanken, nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich bin gespannt, was du zu berichten hast, wenn du wieder zurück bist. Und wenn du gar nicht mehr kommst, dann werde ich dich wohl besuchen müssen.“

Estoy feliz“, kam es aus ihr heraus, als sie an diesem Abend Olga begrüßte.

Olga sagte nichts weiter, lächelte nur und nickte verständnisvoll.

An diesem Abend schrieb sie in ihr Tagebuch:

 

die kraft des löwenzahns

hat den asphalt

aufgerissen

 

zartes grün

sucht sich

seinen weg

 

bald

ja schon bald

wird

der ansatz der blüte

zu erkennen sein

 

am ende

werden dann

flaumige haarkronen

vom wind hinfortgetragen

sich niederlassen

sich an anderer stelle

ihren weg bahnen

 

Wie wunderbar ein Teil von allem zu sein, stand darunter.