Denn Augen haben
und Betrachten ist nicht dasselbe.
Augustinus Aurelius
Claire verlor jede Orientierung für Zeit und Raum. Ein Tag folgte dem anderen. Sie ließ sich treiben.
Bei ihrer Arbeit in der Kaffeeplantage entwickelte sie immer mehr Geschick. Es geschah nicht selten, dass die anderen Arbeiter ihr wohlwollend zunickten.
Während des Vormittags freute sich Claire jeden Tag neu auf die Mittagspause und das mit Juan Felipe geteilte Ritual.
Bin ich verliebt? Dies fragte sie sich eines Abends, als sie sich nach dem Duschen vor dem Spiegel stehend ihre Haare kämmte.
Ein klares Ja kam ihr nicht in den Sinn.
Es war so anders, was sie fühlte. Sie genoss die Augenblicke unter der Bananenstaude, ohne darüber nachzudenken, ob die Art ihres Beisammenseins noch andere Formen annehmen müsste. Sie machte sich keine Gedanken, ob es eine passendere Form gäbe, die ihrer losen Verbundenheit mehr Verbindlichkeit geben würde.
Claire und Juan Felipe begegneten sich wie zwei unabhängige Wanderer, die einander auf ihrem Pilgerweg zufällig begegnet waren. Keiner von beiden hatte das Bedürfnis vom anderen mehr zu erfahren. Im Grunde wusste beide kaum etwas vom anderen. Aber gerade das machte ihr Zusammensein so besonders.
„Schau den Kolibri“, sagte Juan Felipe und zeigte mit dem Zeigefinger dorthin, wo ein Kolibri in der Luft stehend, seinen Schnabel tief in einen Blütenkelch eingetaucht hatte.
Claire hatte einmal in einem Tierfilm diesen sehr imposanten Schwirrflug der Kolibris mit seinem vierzig bis fünfzig Schlägen pro Sekunde fasziniert anschauen können. Für das bloße Auge waren die Flügelschläge nicht wahrnehmbar.
Während Claire wie gewohnt in den Armen Juan Felipes lag, die Augen geschlossen hatte, um für einen Augenblick von der körperlichen Anstrengung auszuruhen, sah sie mit einem Mal ihren Vater deutlich vor sich. Es war kein bewusstes Erinnern, denn das, was sie sah, lag sehr lange zurück. Sie lag im Arm ihres Vaters. Seine beiden Arme umfingen ihren Körper sacht und liebevoll und gaben ihr Halt.
Sie hörte seine Stimme. Er sang:
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost verlachen,
weil unsre Augen sie nicht sehen.
„Que paso?“
Juan Felipe sah sie verwundert an.
Claire öffnete die Augen und merkte dabei, dass sie ganz feucht waren. Sie sah in das tiefe Braun seiner Augen und hielt einen Moment seinem Blick stand. Es folgte ein leichtes Kopfschütteln. Ihre Arme gaben ihm ein Zeichen. Er verstand wortlos, was sie wollte nahm sie fest in den Arm, hielt sie, als gelte es, sie vor einem Absturz zu bewahren.
Gerne hätte Claire später über das gesprochen, was ihr in den folgenden Minuten durch den Kopf ging, während sie den festen Druck von Juan Felipes Armen spürte.
Schon immer hatte sie der Mond fasziniert, gerade dann, wenn von ihm nicht mehr als eine schmale Sichel zu sehen war. Lange hatte sie geglaubt, es handle sich nicht um ein und denselben Himmelskörper. Bis ihr Vater ihr eines Tages das Geheimnis vom abnehmenden und aufgehenden Mond erklärte.
Für sie war dies wie die Offenbarung eines Mysteriums. Im späteren Leben kam ihr dieses oft als Bild in den Sinn. Die Wirklichkeit nur in Teilen zu erkennen, machte sie, so war ihre Erfahrung, manchmal fassbarer, manchmal aber auch geradezu unerträglich.
Auch sie konnte sich nicht davon freisprechen, hinter dem gerade Sichtbaren mehr erkennen zu vollen. Nicht selten begannen damit eine reihe von selbst herbeigeführten Problemen.
„Esta bien!“, antwortete sie eine ganze Weile später. So als habe Juan Felipe sie gerade erst gefragt.
Alles gut, sagte sie zu sich, während ihr Blick sich erneut in sein Gesicht verfing. Alles gut, wie es ist, dachte sie und erwiderte nun die feste Umarmung Juan Felipes.