Erschöpft vom Tage ließ Claire sich auf ihr Bett gleiten und schloss die Augen. Ihre Hände fuhren über das von der Sonne noch erhitzte Gesicht. Ihre Haut war überzogen von kleinsten Salzkristallen. Ihr fehlte die Kraft, sich zum Duschen aufzuraffen. Sie genoss die angenehme Schwere der sie mehr und mehr erfassenden Müdigkeit.
In Gedanken versuchte sie die Bilder des Tages nochmals erstehen zu lassen. Tief einatmend sog sie alle Eindrücke, vor allem die des Mittags in sich auf. Mit jedem Atemzug wurde ihre Atmung flacher, bis sie irgendwann einschlief.
Mit großen Sprüngen hüpfte sie durch das kniehohe Gras und jauchze vor Vergnügen. Ihre Eltern saßen am Rande der Frühlingswiese an einen Baum gelehnt. Wie ein frisch verliebtes Paar wirkten sie auf sie. Ihre Arme hatten sie umeinander geschlungen.
Von Ferne blieb sie stehen, beobachte wie ihr Vater den gewölbten Bauch ihrer Mutter sanft streichelte. Unentschlossen und neugierig trat sie näher. Ihr Vater hob den Blick und nahm sie wahr. Er winkte ihr einladend zu.
Als ihre kleine Hand über den Bauch ihrer Mutter fuhr, konnte sie etwas Hartes ertasten. Sie spürte einen leichten Druck und sah, wie sich die Bauchdecke dabei leicht ausbeulte. Erschreckt wich sie zurück, worauf ihre Mutter sie fest umarmte und ihren Kopf sanft auf den Bauch drückte.
Verwunderte hob sie beim galoppierende Trommeln, das unmittelbar in ihr Ohr drang, den Kopf und sah ihre Mutter fragend an.
„Das ist der Herzschlag deiner kleinen Schwester.“
Sie stand auf und setzte ihr Hüpfen fort.
Das Bellen eines Hundes auf der Straße weckte sie. Als sie sich vom Bette mühsam erhob, schmerzten ihre Glieder. Die Anstrengung der letzten Tage war deutlich zu spüren.
Claire duschte lange und ausgiebig, während ihr die letzen Strahlen der untergehenden Sonne auf den Rücken fielen und eine angenehme Wärme verbreiteten.
Nachdem sie sich mit einer schmackhaften Hühnersuppe gestärkt hatte, saß sie noch lange auf der Veranda. Von dort beobachtete sie zwei sich um einen Knochen streitende Hunde. Beide hielten je ein Ende mit festem Biss fest. Ihre Köpfe vollführten ruckartige Bewegungen. Jeder von ihnen versuchte, dem anderen den ersehnten Knochen mit einem kräftigen Ruck zu entreißen.
Als ein Auto nahte, ließen beide den Knochen erst im letzten Moment fallen und sprangen in ein nahegelegenes Gestrüpp am Straßenrand. Seine Chance erkennend nutzte einer von beiden die wenigen Zentimeter, die der Wagen zuerst an ihm vorbeigefahren war, um sich mit einem beherzten Satz den Knochen zu ergattern und mit großen Schritten davonzueilen.
Claire öffnete die Schublade des Nachttisches und griff zu einem der Notizhefte. Weite Teile des ersten hatte sie interessiert gelesen. Immer hoffte sie gespannt ihren Namen zu entdecken. Warum nur, dachte sie.
Während sie blätterte fiel ihr ein alter Luftpostbriefbogen aus dem Notizheft. Sie faltete ihn auseinander und begann zu lesen. Offensichtlich war er vor gut dreißig Jahren geschrieben worden.
Liebe Claire,
immer und immer frage ich mich, wie es dir wohl gehen mag. Die Tatsache, dass ich mich vor einigen Jahren aus dem Staub gemacht habe, wie du es nennen würdest, ändert nichts an der Tatsache, dass du immer noch meine Tochter bist. Ich weiß, dass es nicht richtig war, mich kommentarlos aus deinem Leben zu verabschieden. Irgendwie hatte ich damals den Eindruck, ich müsste erst mal sehen, ob und wie ich es schaffen könnte, mein Leben wieder in den Griff zu kriegen.
Claire unterbrach das Lesen des Briefes und fragte sich, was für einen Sinn es haben sollte, den Brief weiter zu lesen. Schließlich siegte ihre Neugier und sie las weiter.
Mittlerweile sind so viele Jahre vergangen, dass es mir fast unmöglich erscheint, den ersten Schritt zu machen und wieder Kontakt zu dir zu suchen. Gleichzeitig zerreißt es mich. Du bist wahrscheinlich längst fertig mit dem Studium und arbeitest in deiner ersten Stelle. Was du wohl machst? So viele Fragen beschäftigen mich. Hast du einen Partner und vielleicht schon eine Familie gegründet, oder lebst du alleine? Davon gehe ich im Grunde aus. Nach dem, was wir dir als Eltern zugemutet haben, glaube ich kaum, dass du den Mut aufgebracht hast es mit einer eigenen Familie zu wagen. Wie oft habe ich mir in den zurückliegenden Jahren vorgestellt, wie es wäre, mich bei einem Kaffee einfach mal aussprechen zu können. Ob es je dazu kommen wird?
Hier brach der Brief ab.
Claire wusste nicht so recht, was sie von den Zeilen halten sollte. Einerseits spürte sie, wie alter Ärger in ihr aufstieg. Gleichzeitig rührten sie die Zeilen ihres Vaters irgendwie an.
Zu einer Aussprache war es zu spät. Wahrscheinlich hätte sie jeden Kontaktversuch ihres Vaters sowieso kategorisch abgelehnt.
Mit dem Blick auf all das, was sie in den zurückliegenden Wochen erlebt hatte, schmerzte sie das nun. Sie gestand sich ein, dass auch ihre Hartherzigkeit dazu geführt hatte, dass es nie wieder zu einer Begegnung oder gar Annäherung gekommen war.