Es war lange her,
dass ihn überhaupt jemand berührt hatte.
Amos Oz – Judas
Was einen nicht zueinander kommen lässt, schoss Claire durch den Kopf, ist nicht selten eine Frage des unterschiedlichen Tempos, mit dem sich zwei Menschen durch das Leben fortbewegen.
Es gibt Menschen, die eilen dem Leben vorneweg, so als gelte es, diesem geradezu zu entfliehen. Andere gleichen Wartenden an einer Bushaltestelle. Sie halten Ausschau nach dem nächsten Bus, so als sei das Leben ein vorbeifahrender Bus, in dem man nur einzusteigen brauche.
Zweifelsohne gehörte sie nicht zur zweiten Kategorie von Menschen. Vieles im Leben konnte ihr nicht schnell genug gehen. Es machte sie ungeduldig, wenn die Zeit mit unnötigen Dingen vertan wurde, Menschen nicht sogleich auf den Punkt kamen. Sie war eben das Kind einer immer schnelllebigeren Zeit. Dies konnte sie nicht abstreiten. Warum auch, sollten doch andere die Zeit und damit das Leben vertrödeln.
War das der tiefere Zusammenhang für ihr Alleinsein in all den Jahren. Wer hatte es schon neben jemanden aushalten können, der so wie sie durchs Leben raste?
Durch die Begegnung mit Juan-Felipe war etwas Eigenartiges geschehen. Claire ertappte sich immer häufiger dabei, dass die Zeit gar nicht so gleichförmig verlief.
So vergingen die Vormittage bei der Arbeit in der Kaffeeplantage meist in Windeseile. Dann kam die Zeit der Mittagspause, eine Zeit, die sie Tag für Tag mehr und mehr herbeisehnte. Hier wiederum schien die Zeit stillzustehen. Während die Zeit auf ihre Weise unablässig weiter voranschritt, war ihr als tauche sie in eine andere Welt ab. Die Nachmittage dagegen wollten kein Ende nehmen. Am Abend wünschte sie sich nicht selten, die bevorstehende Nacht läge bereits hinter ihr und der nächste Mittag sei schon in greifbare Nähe gerückt.
Ihr Zeitgefühl begann, sich zu verändern. Sie erlebte Beschleunigung und Entschleunigung genauso wie Stillstand.
Die Augenblicke, in denen es schien, als sei die Zeit stehengeblieben, irritierten sie am meisten. Gleichzeitig ging von ihnen eine magische Anziehungskraft aus. Hätte sie die Wahl gehabt, sie wäre ohne zu zögern bereit gewesen, sich in einen dieser Augenblicke fallen zu lassen, der starken Anziehungskraft folgend darin aufzugehen.
Juan-Felipe hielt sie mit beiden Armen fest umschlungen, während Claire mit geschlossenen Augen alles um sie herum vergaß.
Da ist es, dachte Claire. Da ist dieses Gefühl, sich fallen lassen zu können. Sie schmiegte sich noch mehr an Juan-Felipe und wünschte sich, dieser Augenblick würde nicht mehr enden.
Unsanft wurden jedoch beide irgendwann zurückgeholt in jene andere Wirklichkeit, die für manche die Einzige war.
Als Claire die Augen öffnete, konnte sie zwei Gestalten im Gegenlicht zwar nur schemenhaft wahrnehmen, ihr Rufen und Feixen aber überdeutlich hören.
Innerlich wandte sie sich ab, haderte, wollte verharren.