Spiegelungen III,X

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Hoffnung, die sich verzögert,
ängstigt das Herz.
Amos Oz – Judas

Das folgende Wochenende konnte Claire nicht erwarten. Juan-Felipe hatte sie mit einem Augenzwinkern eingeladen, ihn auf das Fest zu Ehren der Schutzpatronin zu begleiten. Es gäbe kulinarische Leckerbissen aus der Region und eine Gruppe würde zum Tanz aufspielen. Sie hatte nicht lange überlegen müssen und sogleich zugesagt. Eine wohlige Wärme war in ihr aufgestiegen und sie hatte sich gewünscht, der Tag des Festes sei mit dem Aussprechen der Einladung bereits angebrochen.
So zogen sich die folgenden Tage auf nicht endenwollende Weise dahin. In manchen Augenblicken hatte sie den Eindruck, die Zeit wäre rückwärts gewandt.
Als der Tag endlich gekommen war, spürte sie, wie sie eine seltsame Schwere erfasste. Sie hatte Mühe aus dem Bett aufzustehen, blieb länger als gewohnt liegen und hoffte ihr Gemütszustand würde sich irgendwann schon wieder geben.
Gegen Mittag verließ sie ihr Nachtlager. Sie stand lange unter der Dusche. Der Himmel war wolkenverhangen. Inständig wünschte sie sich, der ersehnte Abend wäre frei von Ergüssen des Himmels, die sie sonst so manches Mal herbeisehnte. Heute nicht, dachte sie.
Immer wieder geschah es, dass sie auf die Uhr schaute. Sie hatte Angst, sich zu verspäten. In ihrer Phantasie stellte sie sich vor, Juan-Felipe sei nach einer geraumen Zeit des Wartens enttäuscht wieder nach Hause gezogen. So war es auch nicht verwunderlich, dass sie sich viel zu früh auf den Weg machte.
Olga vielsagender Blick begleitete sie, als sie die Stufen der Veranda mit einem Satz nahm und dabei fast umgeknickt wäre.
»Hasta luego!«, rief ihr Olga nach, wohl wissend, dass sie sie aller Voraussicht vor dem folgenden Tag nicht mehr zu Gesicht bekommen würde.
Von Weitem kamen ihr die rhythmischen Klänge der Musik entgegen. Sie ertappe sich dabei, wie sie für einen kurzen Augenblick stehen blieb und die Schritte wiederholte, die ihr Juan-Felipe am Vortag in der Mittagspause gezeigt hatte.
Erst als sie weiterging, bemerkte sie, dass ihr ein Mädchen zugeschaut hatte, sie mit einem freudigen Lächeln ansah und ihre Schritte mit leicht übertriebenen Hüftschwüngen nachmachte.
Claire nickte verlegen und setzte ihren Weg fort.
Als sie auf die Straße zur Plaza einbog, kamen ihr Duftschwaden entgegen. Sie spürte, wie sich Hunger in ihr regte. Außer einer Schale Obst am Mittag hatte sie nichts zu sich genommen. Zielstrebig ging sie jedoch auf das Eingangsportal der Kirche zu. Dort hatte sie sich mit Juan Felipe verabredet.
Noch war es zu früh, um ihn wirklich zu erwarten. So nahm sie auf den Stufen hinauf zum Eingang der Kirche Platz. Von dort konnte sie das Treiben auf der Plaza beobachten. Es waren vor allem Familien mit ihren Kindern, die sich zum Fest schon frühzeitig eingefunden hatten.
Ein Straßenverkäufer mit Heißluftballons zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Zu seinem Sortiment an Luftballons gehörten eine Reihe aktueller Comichelden und eine Anzahl von knallroten Herzen.
Claire musste einem spontanen Impuls wiederstehen eines dieser Herzen zu kaufen. Nein, es war besser, wenn die Hände für den Abend frei blieben.
Plötzlich war ein Schrei zu hören. Entsetzt sah ein Mädchen in den Himmel. Offenbar war ihr der gerade erstandene Luftballon, während der Vater noch bezahlte, zwischen den Finger entglitten. Als der Vater mitbekam, was geschehen war, beugte er sich zu seiner Tochter herab und versuchte sie zu trösten. Darauf brach das Mädchen in ein lautes Schluchzen aus. Noch während sich Vater und Tochter in den Armen lagen, löste der Verkäufer einen anderen Ballon aus seinem Sortiment. Ein Strahlen erhellte ihr Gesicht. Schlagartig löste sich das Schluchzen auf. Der Vater nahm den Luftballon dankend entgeben.
Von hinten schreckte Claire ein leichtes Tippen auf ihrer Schulter auf. Hinter ihr stand Juan-Felipe und lächelte sie an.