Spiegelungen – Epilog

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Was sie sah,
ließ sie lächeln.
Mo Ra – Morgendämmerung

Claire öffnete die Augen. Sie versuchte, sich zu orientieren. Wo bin ich, fragte sie sich.
Während sie darüber nachdachte, spürte sie einen Druck an ihren Handgelenken. Als sie sie bewegen wollten, merkte sie, dass sie fixiert waren. Panik ergriff sie.
Durch einen Schleier hindurch versuchte sie, ihre Umgebung wahrzunehmen. Ohne Frage befand sie sich in einem Krankenzimmer. Das Bett neben ihr war nicht belegt. Die Vorhänge waren zugezogen.
Was war nur geschehen, fragte sie sich immer und immer wieder, konnte aber keine Antwort finden. Jedes Gefühl für Raum und Zeit war ihr abhandengekommen.

Als später eine Schwester an ihr Bett trat, sprudelten Fragen aus ihr heraus. Dem ratlosen Gesicht und dem Achselzucken der Schwester war zu entnehmen, dass sie nichts verstand.
Tränen der Angst und Verzweiflung begannen zu fließen.
Daraufhin löste die Schwester die Fixiergurte an ihren Händen, setzte sich zu ihr auf die Bettkante und nahm sie in den Arm.
Claire ließ es geschehen. Die Umarmung beruhigte sie.

Was in den folgenden Stunden und Tagen geschah, ließ Claire willenlos über sich ergehen. Die Umarmung der Schwester hatte ihr klar gemacht, dass alle in Sorge um sie waren.
Erst als ein Mitarbeiter der Botschaft sie besuchte, brachte dieser etwas Licht in das Dunkel ihre Gedanken und Fragen.
Als sie wieder alleine war, rekapitulierte sie das Gehörte.
Offensichtlich war sie in jener Nacht, warum konnte keiner sagen, auf die Straße gerannt, hatte zunächst einen ins Mark gehenden Schrei ausgestoßen und war dann zusammengebrochen.
Juan-Felipe war ihr hinterher geeilt und hatte sogleich den Krankenwagen gerufen. Mit der Ambulanz war sie dann in die große Stadt gebracht worden und nach ersten Untersuchungen in einem Krankenhaus in die Psychiatrie überführt worden.
Dort lag sie nun seit fast einer Woche sediert, schwebte zwischen den Welten, ohne bisher so recht in die Welt der Lebenden wieder eingetaucht zu sein.
Die Medikation war nur so weit herabgesetzt worden, dass sie zeitweise in einem Anflug von Klarheit die Welt um sich für Augenblicke wieder wahrnehmen konnte, um dann erneut in tiefen Schlaf zurückzufallen.

Als sie das nächste Mal die Augen öffnete, sah Claire die Schwester an ihrem Bett stehen. Was sie dann sagte, riss sie aus ihrem Halbschlaf heraus.
»Juan-Felipe, llegará, mañana. De verdad!
Die Schwester lächelte und nickte leicht mit dem Kopf, so als wolle sie das Gesagte bekräftigen.
Für Claire löste sich alle Schwere der letzten Tage. Für einen Augenblick erhellte ein Leuchten ihr Gesicht.
Lieben und geliebt werden, war das, was sie dachte, bevor sie zurück in ihren Dämmerschlaf fiel.

In den folgenden Stunden erwachte Claire aus ihrem Dämmerschlaf nur noch für Augenblicke. Ihr Schlaf, in den sie sogleich wieder fiel, glich einer Art Trance. Bilder stiegen vor ihr auf. Sie fand sich an Orten wieder, die sie noch nie gesehen hatte und war von Mensch umgeben, denen sie noch nie begegnet war.
Claires Geist wurde erfüllt von einer Klarheit, die sie bis dahin noch nie erlebt hatte. Sie versuchte das, was ihr wiederfuhr, was sie sah und fühlte nicht zu verstehen. Sie ließ es geschehen, ließ sich treiben, folgte einer inneren Stimme.
Innerlich spürte sie, dass alles nur eine Vorstufe zu dem war, was noch kommen sollte. Völlige Spannung und Entspannung wechselten einander ab.
Zwischendurch ging ein Zittern durch ihren ganzen Körper. Sie begann zu schwitzen. Es schien, als hätten alle Poren ihres Körpers sich geöffnet und wären im Begriff, alle Feuchtigkeit aus ihrem Körper zu lassen.

Plötzlich und unerwartet fand sie sich in einer Weite wieder, die weder Ort noch Zeit kannte. Sie war völlig allein. Ihren Versuch sich zu orientieren, gab sie schnell auf. Sie erkannte, dass es für das, was sie nun erleben sollte, keine Worte gab.
Eine Schwere hielt sie. Claire konnte nicht sagen, ob es diese Müdigkeit war, die sie seit Tagen verspürte. Sie versuchte, sich fortzubewegen. Etwas hielt sie zurück.
Panik stieg in ihr auf.
Eine Stimme in ihr sprach: »Lass es geschehen! Wehre dich nicht länger! Habe Vertrauen!«
Claire schloss die Augen.
Da wurde sie mit einem Mal umhüllt von einem Licht, das heller war, als alles, was sie bislang erlebt hatte.
Immer noch war niemand da.
Claire spürte ihr Zittern.
»Beruhige dich!«, sagte sie zu sich selbst. »Lass es Geschehen! Es gibt keinen Grund sich zu ängstigen.«
So stand sie da, umgeben von diesem hellen Licht, atmete tief ein und ließ beim Ausatmen alle Anspannung aus sich heraus.
Irgendwann gaben ihre Beine unter ihr nach. Sie stürzte zu Boden.
Was nun geschah, war noch sonderbarer, als alles, was sie bis dahin schon erlebt hatte. Sie fiel träumend in einen weiteren Traum.

Dort fand sie sich wieder in einer ihr unbekannten Landschaft. Ihre Schritte jedoch hatten ein Ziel, das sie selbst nicht kannte.
Nachdem sie den mühsamen Weg, einen Berghang hinaufgestiegen war, erreichte sie eine Kuppe. Von dort oben breitete sich eine Landschaft vor ihr aus, die die lange Geschichte der Erde manifestierte.
Claire setzte sich und war sprachlos. Sie war fasziniert und ergriffen von dem, was sich ihr bis zum weiten Horizont auftat.
Irgendwann war ihr, als habe jemand neben ihr Platz genommen. Sie widerstand der Versuchung, den Blick zur Seite zu wenden.
»Ich habe dich erwartet«
Claire wagte nicht, etwas darauf zu erwidern.
»Du brauchst nicht zu antworten. Was ich dir nun sagen werde, wird alles verändern, was du bis heute gedacht hast.«
Eine Pause folgte, in der Claire darüber nachdachte, was nun kommen würde.
»Ich will dir das tiefere Geheimnis des Seins offenbaren. Du bist ihm schon sehr nahe gekommen. Du hast begriffen, dass zu lieben und geliebt zu werden zum wichtigsten gehört, was das Sein erfüllt. Es scheint so einfach zu sein. Gleichwohl, und hier hast du zahlreiche Erfahrungen in deinem Leben sammeln können, gibt es so viele Menschen, die sich hinter dieser Grundwahrheit verstecken. Sie erfassen diesen Grundkern des Seins gedanklich, können ihn wunderbar umschreiben, werden dafür verehrt, dass sie all dies in zauberhafte Worte fassen können, Bilder von einzigartiger Schönheit malen …«
Hier brach die Stimme neben ihr ab. So, wie wenn jemand eine Kunstpause einlegt, weil er sichergehen möchte, dass das Gegenüber wirklich zuhört.
»Und?«, hörte sie sich fragen.
»Alles, was sie mit Worten sagen und ihren Werken zeigen, ist nicht erfüllt von einer tiefergehenden Wirklichkeit. Sie reproduzieren etwas, ohne es je in ihrem eigenen Leben erfahren zu haben.
Wieder folgte eine Pause.
»Sprich weiter, ich höre dir zu!«
»Oft genug laufen sie davor weg, stürzen sich in alles Mögliche, nur um sich abzulenken. Tief in ihnen schlummert eine Angst. Es ist die Angst vor der Verzauberung, die sie so sein lässt.«
»Verzauberung.«
»Ja, Verzauberung. Liebe ist Magie. Sie ist die schöpferische Urkraft, die alles ins Dasein ruft und im Grunde auch erhält.«
Claire öffnete kurz die Augen.
»Sieh diese unbegreifliche Schönheit der Natur. Sag, mir einen guten Grund, warum ich mitten dieses vollkommene Werk hinein, euch Menschen hätte schaffen sollen!«
Claire erschauderte. Jetzt begriff sie, dass der Ewige selbst sich an ihre Seite gesellt hatte.
»Es gibt nur einen Grund und der ist in dem Wesen der Liebe selbst begründet. Als Liebender, und als solchen möchte ich mich einmal bezeichnen, sucht man nach einem Gegenüber, nach jemandem, mit dem man die Magie, den Zauber der Liebe teilen kann. Darum und nur darum gibt es euch.«
Claire hatte den Eindruck, ein Schluchzen zu hören, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Sie wartete, wollte wissen, was noch folgen würde.
»Nun, was habt ihr aus der Magie und dem Zauber der Liebe gemacht?!«
Wieder nahm Claire ein leises Schluchzen wahr.
»Du stehst gegenwärtig an einer Schwelle. Du wirst dich entscheiden müssen, ob du bereit bist, dich der Magie und dem Zauber der Liebe hinzugeben. Öffne die Augen, Claire! Schau vor dich! Es ist wie mit dem Blick in die Natur. Es ist so ein großer Unterschied, etwas zu sehen, oder in etwas einzutauchen, Teil zu werden, von etwas, das so viel größer ist.«
Claire nickte. Sie musste einem spontan aufkommenden Impuls, sich von der Kuppe in die Tiefe zu stürzen und Teil der sich unter ihr ausbreitenden Natur zu werden, widerstehen.
»Du hast mich nicht verstanden. Es geht in der Liebe nicht darum, sich aufzugeben. Nur als Gegenüber kannst du die Magie und den Zauber der Liebe erfahren. Allein dazu habe ich euch erschaffen.«
In der Pause, die nun folgte, sah Claire beschämt vor sich hin.
»Danke, dass ich einen Moment an deiner Seite weilen durfte.«
»Ich habe zu danken. Du warst es, der mich in die Weisheit der Liebe eingeführt hat.«
»Und du hast mir ermöglicht, mich an etwas zu erinnern, was ich selbst im Begriff war zu vergessen.«

Als Claire wieder die Augen öffnete, sah sie die Schwester an ihrem Bett sitzen. Sie hielt ihre Hand, lächelte und sagte:
»Todo estará bien!«