Für sie und für ihn war diese Geschichte
natürlich einzigartig, kostbar, selten.
Sie war etwas Besonderes.
Es war ihre Geschichte.
Philippe Besson
Der kleine Zettel auf der Anrichte zog erst viel später ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie war am Nachmittag von einem Stadtbummel mit ihrer besten Freundin Maren zurückgekehrt. Über Stunden waren sie von einer kleinen Boutique zur nächsten gezogen. Hatten anprobiert, waren wie auf dem Laufsteg voreinander auf und ab gegangen. Hatten ausgewählt, verworfen und waren schließlich doch fündig geworden.
Als sie nach Hause kam, fühlte sich verschwitzt, ging duschen, kochte sich einen starken Kaffee und überflog die Tageszeitung. Sie lag noch ungelesen auf dem Küchentisch.
Dies hätte ihr schon auffallen können. Hannes war es stets, der die Zeitung vor allen las. Eine Art Privileg. Keiner konnte sich daran erinnern, dass dies irgendwann einmal anders gewesen war. Selbst die Kinder hatten dies nie in Frage gestellt. Erst wenn sie auf der Anrichte landete, war sie zur allgemeinen Lektüre freigegeben.
Etwas gelangweilt blätterte sie in ihr herum. Kein Artikel wollte so recht ihre Aufmerksamkeit hervorlocken. Es war mehr eine Art Zeitvertreib. Innerlich war sie noch ganz bei den zurückliegenden Stunden. Würden die neuen Sachen Hannes gefallen. Sie war gefasst auf seinen skeptischen Blick. Er brauchte nur zu gucken. Brauchte nichts zu sagen. Auf diese Weise war manches Kleidungsstück auf unbestimmte Zeit im Kleiderschrank verschwunden und irgendwann, oft nach Jahren erst, in irgendeinem Altkleidersack gelandet.
Der Ärger, der früher noch regelmäßig in ihr entfachte, der ihr die Kehle zuschnürte und ihr regelmäßig für Minuten den Atem nahm, dieser Ärger war der Gewohnheit gewichen. So wie vieles in ihrem Leben zur Gewohnheit geworden war.
Um so mehr genoss sie die Zeit mit Maren. Sie kannten sich von Kindheit an. Auch so eine Gewohnheit dachte sie, während sie die Todesanzeigen betrachtete. Für einen kurzen Augenblick wurde ihr ganz übel.
Sie nahm letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse, goss sich aus der Kanne nach und wendete den Blick zurück auf die vielen kleinen Anzeigen. Traueranzeigen. In Stiller Trauer stand dort. Sie hatte sich immer schon über diesen Zusammenklang von still und Trauer gewundert. Trauer war für sie stets etwas Aufwühlendes, absolut Tragisches. Schreien ja, aber Schweigen. Sie, die das Schweigen so sehr hasste. Wie konnte man beim Verlust eines lieben Menschen ruhig bleiben? Zum Schreien wäre ihr zumute.
Sie kam ins Nachdenken. Was würde ihre Lieben irgendwann in ihre Traueranzeige schreiben. Eigentlich hasste sie Traueranzeigen, weil es doch zu oft nur das jahrelange Schweigen aufzubrechen versuchte und sich dabei in für Nahestehende unhaltbaren Worten verfing.
Zu einer weiteren Gewohnheit ihres Alltags mit Hannes gehörte es, dass er die Post als Erster durchsah. Mit Ausnahme der Tage und Wochen, in denen er mal nicht zu Hause an seinem neuen Roman arbeitete und der ihn daran hinderte, das zu tun, was – warum eigentlich!? – nur ihm zukam, die Post vor der Öffnung in der häuslichen Postannahmestelle vorzusortieren. Dieser Vorgang wiederholte sich Tag für Tag und schließlich fanden sich nach der erneuten Sortierung im Regelfall drei Posthäufchen auf der Anrichte wieder, einer für Hannes Post, ein Familienstapel und einer für Allgemeines. Hierunter vielen Telefonrechnungen, Werbekataloge und anderes mehr.
Sie wandte sich um. Auf der Anrichte war ein großer Stapel mit der Post des Tages zu sehen. Unsortiert, offenbar. Wahrscheinlich war Hannes bislang nicht dazu gekommen, die Post zu sortieren. Wo war er eigentlich? Dunkel konnte sich erinnern, dass er etwas von einem Termin mit seinem Verleger gesagt hatte. Nun war es aber schon fünf Uhr am späten Nachmittag.
Sie stand auf, ging zur Anrichte und begann die Post durchzusehen. Da war nichts, was ihr Interesse auf sich zog.
Stattdessen fiel ihr Blick auf eine kleine Notiz, niedergeschrieben auf einem aus einem Notizheft herausgerissenen Zettel.
Sie erkannte die Handschrift von Hannes sofort. Auf ihm war mit der von Hannes so eigentümlich krakeligen Schrift zu lesen:
Ich bin für einige Zeit weg.
Such mich nicht.