Am nächsten Morgen war Hannes immer noch nicht wieder da. Sie ging diesem Umstand jedoch nicht weiter nach. Mit Liebe machte sie sich Frühstück. Holte Brötchen vom Bäcker.
Irgendwo im Küchenschrank fand sie eine Tüte mit losen Kaffeebohnen. Sie kramte die alte Mühle hervor, nahm sie zwischen ihre Beine und begann zu mahlen. Sie drehte und drehte. Und mit jeder Drehung war es ihr, als drehe sich ihr Leben rückwärts.
Früher hatte sie ihrer Großmutter gerne beim Kaffeemahlen zugeschaut. Sie liebte den Duft frisch gemahlenen Kaffees.
Mit einer frisch aufgebrühten Tasse Kaffee in der Hand begann sie in der Tageszeitung zu blättern.
Ein besonderer Tag nahm seinen Anfang. Ein Tag ohne Hannes. Ohne seine Gewohnheiten.
Unschlüssig und zaghaft hatte sie damit begonnen, die ersten Striche auf das noch unbeschriebene Blatt ihres Tages zu zeichnen. Ein erwartungsvolles Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Sollte Hannes heute immer noch nichts von sich hören lassen, würde sie den Tag einfach für sich nutzen. Oder besser gesagt, sie würde gar nicht erst damit rechnen, dass er heute schon von Woauchimmer zurückkehren würde. So konnte sie ungehindert ihr Tagewerk fortsetzen. Sie vergaß alle Verpflichtungen des Tages und ließ sich fortan treiben.
Gegen Mittag verließ sie das Haus. Ziellos. Sie nahm das Fahrrad aus der Garage. Sie stutzte. Hannes Volvo stand da. War Hannes doch nicht weg? Oder anders weg als gedacht. Nicht mit dem Volvo. Seinem Vehikel, hinter dessen Steuer, ausgenommen der langen Urlaubsfahrten, nur er saß. Für einen Moment kam sie in Grübeln.
Nein, dieser Tag sollte ihr Tag sein und bleiben. Sollte Hannes wo und wie auch immer … Sie brach ihre Gedanken ab, schloss die Garagentür und schwang sich aufs Rad.
Es war angenehm kühl nach der Schwüle der letzten Tage. Mit jedem Tritt in die Pedalen entfernte sie sich von allen unguten Gedanken. Ihr Kopf wurde freier.
Körper und Fahrrad wurden mehr und mehr eins. Sie rollte über die Feldwege dahin. Einen kleinen Anstieg nahm sie mit Leichtigkeit und genoss die waghalsige Abfahrt.
Sie fing an zu summen. Ihre eigene Melodie. Töne, die sich aus ihrem Innern hervordrängten. Merkwürdig, welche bleierne Schwere sie vor Stunden noch verspürt hatte.
Mit jeder Umdrehung, die ihre Pedale nahmen, war sie mehr und mehr bei sich. Ihre Fahrt wurde immer beschwingter und nahm waghalsige Züge an. Sie fuhr Schlangenlinien und wäre dabei fast mit einem entgegenkommenden Radfahrer zusammengestoßen. Er musste ausweichen und fluchte lauthals. Dies kümmerte sie wenig. Ihre Sorglosigkeit hatte etwas Berauschendes.
Von Natur aus war sie stets ängstlich auf dem Rad unterwegs. Stieg bei jeder nahenden Gefahr ab, wartete, schob lieber eine Weile ihr Rad vor sich her, als unnötig eine Gefahr einzugehen. Ihre Ängstlichkeit hatten Radtouren mit Hannes zur Tortur werden lassen. Schon lange waren sie nicht mehr gemeinsam aufgebrochen.
Hannes und sie waren in manchem so Grund verschieden Er hatte seine ganz eigene Art, sein eigenes Tempo. Früher hatte sie dies fasziniert. Sie wäre gerne so gewesen wie er. Waghalsig, sorglos, zielstrebig. Neben ihm hatte sie sich immer etwas größer, sicherer gefühlt.
Nun war er fort. Und sie spürte dennoch etwas in sich wachsen.
Erst spät am Abend kehrte sie völlig erschöpft aber überglücklich zurück. Erstaunt stellte sie fest, dass sie über den halben Tag alle Grundbedürfnisse vergessen hatte. Sie hatte nichts gegessen, nichts getrunken und war kein einziges Mal auf Toilette gewesen.
Als sie am Küchentisch Platz nahm, hatte sie das Gefühl, als sei das, was sich in den letzten Stunden so neu angefühlt hatte, schon immer in ihr gewesen. So als habe es sich über die Jahre mit Hannes nur hinter all den kleinen und alltäglichen Gewohnheiten versteckt.
Sie trank hastig ein Glas Wasser und griff zu ein paar Aprikosen aus der Obstschale. Zufrieden ließ sie in Gedanken den Tag Revue passieren.
Hätte jemand sie durchs Fenster gesehen, so wäre ihm aufgefallen, dass sie den Kopf leicht schüttelte. So recht konnte sie selbst nicht glauben, was sich binnen der letzten Stunden ereignet hatte.
Eigentlich hätte sie heute an ihrer Auftragsarbeit weiterarbeiten müssen. Die Skulptur für einen Kunden musste in knapp vierzehn Tagen fertig sein.
Heute würde sie jedoch keine Fuß mehr in die Werkstatt setzen. Auch dieser Gedanke hat heute etwas Befreiendes.
Das Schrillen des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Maren kam ohne Schnörkel direkt zum Wesentlichen.
»Ist er wieder aufgetaucht?«
»Wer?«
»Hannes!«
»Ach so, nein.«
»Hast du Nachforschungen angestellt?«
»Nein!«
»Nein? Warum nicht? »
»Du, ich hab mir heute einen Tag Auszeit gegönnt.«
»Eine Auszeit? Du willst doch nicht sagen, du hast den ganzen Tag nicht daran gedacht, dass Hannes verschwunden ist?«
»Eigentlich schon.«
»Vielleicht ist ihm etwas Schlimmes zugestoßen!«
Sie merkte, wie sie langsam sauer wurde. Sie hatte einen wunderschönen Tag mit sich verbracht und wollte sich die gute Stimmung nicht vermiesen lassen.
»Was soll schon passiert sein? Hannes ist kein kleiner Junge mehr, um den man sich Sorgen machen müsste. Er ist ein großes selbständiges und oft sehr egoistisches Arschloch. Also, sag mir einen Grund, warum ich mir Sorgen machen sollte.«
Keine Antwort. Schweigen.
Sie war selbst überrascht über ihren spontanen Ausbruch.
»Außerdem hat er sich in den letzten Tagen völlig normal gegeben. Alles war im grünen Bereich. Für ihn jedenfalls.«
Erneutes Schweigen.
»Sag mal, bist du noch dran?«
»Ja.«
»Du hast doch nicht angerufen, um mir den Abend zu verderben oder?«
»Lass gut sein! Ich ruf die Tage noch mal an. Mit dir kann man heute ja nicht reden. Wenn es Neuigkeiten gibt, kannst du mich ja anrufen.«
Kaum hatte Maren ausgesprochen, hatte sie schon aufgelegt.
Sie hielt den Hörer noch eine Weile abwesend in der Hand, erstaunt über sich selbst und doch irgendwie erleichtert über die eigene Direktheit.
Was war binnen eines guten Tages so anders in ihrem Leben geworden?