Einer guten alten Familientradition folgend, beschloss sie, zur Entspannung ein Bad zu nehmen.
Nach dem Baden saß sie eine Weile in ihrem Morgenmantel auf dem Wannenrand. Sie hielt eine Rose in den Händen. Hannes hatte sie ihr vor einigen Tagen geschenkt und seither stand sie in einer kleinen Vase auf dem Waschtisch im Badezimmer.
Sie begann Blatt um Blatt von der Rose abzuzupfen und warf eines nach dem anderen in das immer noch von Schaum bedeckte Badewasser. Dort schwammen sie nun und erinnerten eher an eine Trauerfeier mit einem bis oben an mit Rosenblättern gefüllten Bastkorb.
»Er liebt mich«, dachte sie, als sie das Licht ausknipste und das Bad verließ. Der Satz hatte etwas Beruhigendes.
Sie schlief direkt ein.
Aus dem Tiefschlaf erwachte sie einige Stunden später. Es war mitten in der Nacht. Instinktiv drehte sie sich im Bett zur Seite. Hannes Bettseite war leer.
Sie brauchte einen Augenblick, um wieder klar zu haben, dass Hannes nicht da war und dieser Umstand im Begriff war, zu einem längeren Zustand zu werden. Wie, wenn Hannes nicht nur für kurze, sondern für längere Zeit abwesend bliebe? Gar für immer?
Sie spürte sofort, wie ein Schwall Hitze sie erfasste. Was im Verlauf des Tage noch so verlockend gewesen war, löste sich mit einem Mal auf. Alles gefühlte Glück der letzten Stunden wurde mit einem Mal in eine Nebelschwade bestehend aus Angst und Panik gehüllt.
Wie konnte sie nur so töricht sein. Sie würde nie ohne Hannes sein können. Vor Jahren hätte sie den Absprung vielleicht noch geschafft. Jetzt nicht mehr. Sie brauchte ihn wie die Luft zum Atmen, mit all seinen abstoßenden und nervenden Gewohnheiten.
Ihr wurde speiübel. Sie rannte zum Klo. Sie würgte, als wolle sie all das, was offensichtlich oder doch eher verborgen nicht zu ihr gehörte, herauswürgen. Nicht mehr als etwas Galle wollte ihr Inneres verlassen.
Hielt sie so sehr an allem fest, dass es ihr unmöglich war, das Ungute einfach auszuspucken. Wie erleichtert hatte sie sich früher gefühlt, wenn sie sich endlich, vor lauter Übelkeit benommen, über dem Klo beugen und entleeren konnte. Ihr Spucken glich manchmal dem Versuch, alles Unliebsame durch eine solche Aktion aus dem eigenen Leben zu entsorgen.
Sie musste aufstoßen.
Ihr war ihr verlogenes und niederträchtiges Dasein so zu wider, dass sie sich vor sich selbst zu ekeln begann.
Sie ließ sich neben dem Klo zu Boden sinken. Alle Kraft, alle Vitalität war gewichen.
Ihre Abhängigkeit von Hannes stand ihr deutlich vor Augen. In ihrem nun fünfundfünfzig Jahre andauernden Leben hatte sie es zu nichts mehr als zu einer bedingt erfolgreichen Künstlerin und einer launischen, frustrierten Ehefrau gebracht.
Und Mutter, ergänzte sie in Gedanken nach einer Weile. Sie war ja auch Mutter.
Seit gestern hatte sie gar nicht an Nils und Lea gedacht.
Vielleicht war Hannes ja bei ihnen. Seit dem Auszug der beiden hatte er einen besseren Draht zu ihnen. Gleich morgen Früh würde sie sie anrufen. Der Gedanke an ihre Kinder ließ sie wieder etwas zur Ruhe kommen.
Die Welt der Träume nahm sie sogleich in Beschlag, kaum hatte sie die Augen geschlossen. Wirre Bilder liefen an ihr vorüber. Wüste Kulissen bauten sich auf.
Ein Szenario jagte das nächste. Unverhofft tauchten ständig neue Fratzen schneidenden Gestalten auf, die sie zu Tode erschreckten. Bekannte Gesichter konnte sie unter ihnen nicht erkennen.
Schweißgebadet erwachte sie und war froh, sich in ihrem Bett wiederzufinden. Schon oft hatte sie darüber nachgedacht, ob der Traum so eine Art Vorhof der Hölle sei. Es war wie ein inneres Geisterbahnfahren.
Sie lag eine Weile wach. Versuchte sich an die Bilder des Traumes zu erinnern. Vergeblich. Ein ungutes Gefühl blieb zurück. Sie stand auf. Ging ins Bad. Machte den Wasserhahn an. Hielt ihren Kopf unter den Wasserstrahl. Das kalte Wasser tat gut. Ihre innere Hitze kühlte etwas ab.
Als sie sich wieder aufrichtete ran das Wasser ihrer nassen Haaren über ihren Körper abwärts. Sie war nackt. Ihre Hände wanderten über ihren nackten Körper. Gänsehaut überzog sie. Sie fröstelte. Sie griff tastend zum Handtuch und hüllte sich ein. Sie hob den Kopf, schaute vor sich, konnte im Spiegel aber nur einen Schatten ihrer selbst erkennen. Sie erschrak. Wer war diese Person, die sie mit herunterhängenden Mundwinkeln und ängstlichem Blick ansah?
Etwas trieb sie zurück ins Bett. Sie zog die Decke über den Kopf, winkelte die Beine an. Suchte Schutz wie in einer unterirdischen Höhle. Nach kurzer Zeit kehrte die wohlige Wärme des Bettes zurück und ließ sie wieder einschlafen.
Im folgenden Traum waren die Bilder klarer. Sie konnte Personen erkennen. Es waren ihr bekannte Personen. Sie fand sich in einer weiten nicht endenwollenden Landschaft wieder. Karge Vegetation. An ihrer Seite Hannes. Er hielt sie an der Hand. Sein Körper ragte übergroß über sie hinaus. Sie musste hinaufschauen, um sein Gesicht erkennen zu können. Hannes lächelte. Sie versuchte, sich zu strecken. Es gelang ihr nicht. Erst jetzt merkte sie, dass sie bis zu den Hüften im Boden steckte. Eingegraben. Sie wollte sich befreien, es misslang. »Komm nur«, hörte sie Hannes sagen. »Wir müssen weiter«. Die Beine ließen sich einfach nicht bewegen. Zu tief steckte sie fest. Ängstlich schaute sie Hannes an. Ihr Blick flehte um Hilfe. Als sie ihren Mund öffnete, kamen an einer Kette aufgereiht übergroße Buchstaben heraus. Lautlos wie durch Geisterhand wurden sie aus ihr herausgezogen. Sie fielen zu Boden und lösten sich sogleich auf. Hannes lachte. Vor lauter Wut wollte sie schreien. Kein Ton entwich ihr. Stattdessen war sie im Begriff an den Buchstaben zu ersticken. Mühsam rang sie nach Luft. Hilfe suchend sah sie auf zu Hannes. Er lachte immer noch. Flehend und verzweifelt begann sie wie wild, mit den Händen zu fuchteln. Hannes zeigte keine Anstalten, ihr zu helfen. »Komm nur, du musst es nur wollen. Dann schaffst du es auch.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging weiter. Er entfernte sich und ließ sie zurück.
Sie erwachte kurz, fiel aber sogleich wieder in einen festen, nun aber traumlosen Schlaf, der bis zum Morgen andauerte.