Hors Saison I,IV

Hors Saison Titelbild

Als sie erwachte, prasselte der Regen gegen die Fensterläden. Sie schlug die Augen auf. Versuchte sich zu orientieren. Hannes lag nicht neben ihr im Bett.
Einen Augenblick dachte sie, er sei wie so oft vor ihr aufgestanden. Fast zwanghaft stand er Morgen für Morgen um sechs Uhr auf. Nichts konnte ihn davon abhalten.
Dann kamen die Erinnerungen der letzten beiden Tage in ihr zurück. Hannes war fort. Der Gedanke an sein Verschwinden hatte etwas Bleiernes, Schweres.
Sie stand auf, warf den Morgenmantel über und ging in die Küche, setzte Wasser für den Kaffee auf. Gewohnheitsmäßig wandte sie den Blick zur Anrichte. Schaute intuitiv, ob Hannes die Zeitung schon hereingeholt und gelesen hatte.
Hannes war fort. Die Tageszeitung lag noch vor der Tür auf der Fußmatte. Als sie die Zeitung aufhob, fühlte sie sich wie eine alte Frau. Sie kam kaum wieder hoch. Etwas hinkend kehrte sie in die Küche zurück.
Sie drehte das Gas ab. Das Brodeln im Kessel fand sofort ein Ende. Ihr war nicht mehr nach einem Kaffee. Ihr Morgenritual, eine frisch aufgebrühte Tasse Kaffee, würde heute ausfallen.
In die Werkstatt würde sie auch heute keinen Schritt hineinsetzen. Der Gedanke an die Terminarbeit blitzte auf, verschwand aber ohne Nachwirkung. Wie Schein eines entzündeten Streichholzes, welches die schwarze Nacht für Sekundenbruchteile matt erleuchtet und dann wieder vom Schwarz verschluckt zu wird.Sie hatte das Bedürfnis sich jemandem mitzuteilen. Dachte an ihre Kinder. Griff zum Telefonhörer, wählte Leas Nummer und wartete.
»Hallo?«
Lea meldete sich nie mehr als mit diesem fragenden Hallo.
»Kleines, hier ist Mama.«
»Mama, hört auf damit.«
»Womit?«
»Du weist schon. Ich bin schon lange nicht mehr deine Kleine. Wann kannst du das endlich akzeptieren?«
»Entschuldige.«
»Was gibt’s? Du hast doch nicht einfach so angerufen, um dich danach zu erkundigen, wie es mir geht.«
Am liebsten hätte sie wieder aufgelegt. Sie war zu keinem Streit aufgelegt.
Schweigen.
»Mama!?«
»Lea, Papa ist fort.«
»Fort? Was heißt das?«
»Ja, er ist seit vorgestern verschwunden.«
»Verschwunden? Mama, kannst du mal in ganzen Sätzen reden. Mach es nicht so geheimnisvoll.«
»Ich kann dir nichts sagen.«
»Aber du hast doch nicht angerufen, um mir nichts zu sagen.«
Sie hörte Ungeduld in Leas Stimme. Gleich würde sie auflegen. Sie musste ihr mit Worten zuvorkommen.
»Ich bin völlig ratlos. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Dein Vater ist einfach weg.«
»Hat er nicht mit dir gesprochen und gesagt wohin?«
»Er hat nur eine kurze Nachricht auf einem Schmierzettel hinterlassen.«
Sie begann zu schluchzen.
»Mama, entweder du kommst jetzt auf den Punkt, oder ich lege auf. Ich habe heute einen schweren Tag vor mir. Ich muss mein neuestes Projekt vorstellen und meine Gedanken bei mir haben.«
Das Schluchzen wurde immer heftiger. Hatte sie ihre Tochter anrufen müssen, um Zugang zu ihren Gefühlen zu bekommen?
»Und überhaupt, mich interessieren eure Eheprobleme schon lange nicht mehr. Wie hab ich früher immer so treffend gesagt: Ihr seid alt genug, eure Probleme selber zu lösen. Also erwarte jetzt nicht von mir, dass ich irgendeine Nanny spiele.«
Das Schluchzen erstickte abrupt.
»Mama. Entschuldige, es war nicht so gemeint. Aber heute liegt wirklich ein harter Tag vor mir. Ich habe bis in die Nacht an dem Projekt gearbeitet und wenig geschlafen. Papa wird schon wieder auftauchen. Was hat er eigentlich geschrieben?«
»Nichts weiter. Einfach nur: Ich bin für einige Zeit weg. Suche mich nicht.«
»Suche mich nicht?«
»Ja.«
»Dann ist doch alles ganz klar. Papas Nachricht gilt nur dir. Also kein Grund zu dramatisieren. Also versuch bitte nicht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Papas Verschwinden hat nur etwas mit dir zu tun. Mama, ich muss jetzt los. Kannst dich ja noch mal melden, wenn’s was Neues zu berichten gibt.«
»Lea, ich …«
Weiter kam sich nicht. Lea hatte schon aufgelegt. ›Papas Verschwinden hat nur etwas mit dir zu tun.‹ Dieser Satz zog sie in ein riesiges schwarzes Loch. Sie konnte nichts mehr denken. Alle Gefühle waren wie neutralisiert. Sie verlor das Bewusstsein, sackte zusammen und fiel auf den Küchenboden.

Sie erwachte erst wieder, als die Kälte des Steinfußbodens ihren ganzen Körper erfasst hat. Irgendeine Stimme war zu hören. Leise, kaum hörbar. ›Papas Verschwinden hat nur etwas mit dir zu tun.‹
Sie richtete sich mühsam auf. Lehnte sich an die Anrichte. Was war mit ihr? Und wer redete mit ihr.
»Hannes!«
Es kam fast wie ein Schrei aus ihr. Eine Art Flehen. Könnte er doch einfach wieder da sein und dieser scheußliche Satz ein für alle Mal verschwinden.
Nichts dergleichen geschah. Hannes war nicht da. Und der Satz hämmerte weiterhin in ihren Kopf.
Es gelang ihr nicht, sich von ihm zu distanzieren. Er hatte sie ins Mark getroffen. Aber was nur hatte sie gemacht?
Sie ließ die letzten Tage, Wochen, Monate in Gedanken vorüberziehen. Sie konnte nichts entdecken, was irgendwie anders gewesen wäre. Hannes war in allem seinen Gewohnheiten nachgegangen.
Und zwischen ihnen war es eigentlich wie immer gewesen. Eigentlich!? Sie dachte nach. Versuchte sich zu erinnern. Ihre Verbundenheit glich seit langem dem Meer und seinen Gezeiten. Ein steter Wechsel von Ebbe und Flut, Flut und Ebbe.
Schon lange war das Thema Trennung nicht mehr in ihre Streitgespräche eingeflochten worden. Irgendwie hatten sich beide damit arrangiert. Sie wussten, was sie aneinander hatten und was nicht. Sie lebten jeder sein Leben auf die eigene Art und Weise. Manchmal ohne einander und aneinander vorbei. Dann wieder wie in trauter Zweisamkeit.
Es lag nichts Konkretes in der Luft. Nichts was Hannes Weggang irgendwie erklären würde. Kein Streit, keine aktuelle Krise zwischen ihnen.
Vielleicht würde ein heißes Bad ihr gut tun. Sie auf andere Gedanken bringen.

Nach dem Bad waren die besseren Lebensgeister wieder in ihr zurückgekehrt. Lea Satz hämmerte nur noch dumpf in ihrem Kopf.
Nun kochte sich einen Kaffee, den ersten des Tages, dann noch zu ungewohnter Stunde.
In der einen Hand die Tasse nahm sie mit der anderen Hannes Zettel von der Anrichte auf, drehte ihn um und griff zu einem Stift. Sie begann zu schreiben.
Immer wenn sie ihre wirren Gedanken sammeln wollte, griff sie gerne zu Stift und Papier und schrieb ihre Einfälle lose auf.
Worüber machte es Sinn, nochmals intensiver nachdenken? Gab es Dinge, die sie in ihre Fragen und Betrachtungen mit einbeziehen sollte? Gab es etwas, eine Kleinigkeit, die sie bislang übersehen hatte. Etwas, was eine Art Fingerzeig sein konnte? Sie begann zu schreiben:

WARUM?
Hannes letzter Roman
persönliche Lebenskrise
Ärger über …???
eine andere Frau!?