Bei Gedanken an eine andere Frau durchzuckte es sie. Hat sich Hannes eine Auszeit mit einer anderen Frau genommen. Hatte er jemand kennengelernt? Wo? Auf einer Lesung?
Eigentlich passte es nicht zu Hannes. Aber wie lange konnte man es mit einer launischen, frustrierten, älterwerdenden Kuh aushalten. War Hannes nicht doch wie viele Männer, die in die Jahre kamen und die Freude an den Röcken jüngerer, manchmal weitaus jüngerer Frauen fanden? Aber so viel Plattheit traute sie Hannes doch nicht zu.
Der Gedanke an eine andere Frau ließ sie dennoch nicht mehr los. Er war unangenehm. Gleichzeitig hatte er etwas Befreiendes. Das Hämmern in ihrem Kopf ließ nach. Wenn es eine andere Frau gab, war Leas Satz bedeutungslos.
So richtig erleichtert konnte sie jedoch nicht sein. Immerhin. Gäbe es eine andere Frau, könnte sie nur das Theaterstück der betrogenen und verlassenen Ehefrau aufführen. Und dieses würde kein großer Erfolg werden. Dagegen hätte es etwas auf sich mit dem Nur-mit-dir, dann läge es an ihr, etwas daran zu ändern. Dann lag eine Zukunft mit Hannes auch in ihrer Hand. Dies fühlte sich irgendwie besser an.
Sie begann zu überlegen, wie sie Hannes wieder für sich einnehmen würde. Wie sie die unerfreulichen Zeiten zwischen ihnen ungeschehen machen könnte.
Gleichzeitig dachte sie an die Leichtigkeit und das Gefühl von Freiheit, welche sie gestern verspürt hatte.
Der Rest des Tages verging wie ein träger kaum merklich dahinströmender Fluss kurz vor dem Versiegen.
Gegen Abend verspürte sie leichten Hunger. Erst jetzt merkte sie, dass sie fast zwei Tage nichts gegessen hatte. Außer Kaffee und Wasser hatte sie nichts zu sich genommen. Es war kein Heißhunger oder Appetit wie sonst so oft. Eher eine innere Stimme, die sie an eine alltägliche Notwendigkeit erinnerte. Heute wollte sie dieser aber nicht mehr nachkommen. Nicht zu essen hatte etwas Befreiendes. Sie spürte, wie sich etwas in ihr langsam begann, sich zu lösen.
Sie nahm einen langen Schluck direkt aus der Wasserflasche. Was brauchte sie mehr als ab und zu etwas Wasser. Als sie die Flasche wieder auf der Arbeitsplatte abstellte, fiel ihr Blick auf die Pinnwand. Dort hing seit Jahren ein kleiner Zettel. Hannes hatte sie stets erbost angeschaut, wenn sie mal wieder Anstalten machte, ihn abzunehmen und wegzuschmeißen. Sie hatte wenig übrig für diese Sinnsprüche, die sich überall im Haus an allen unmöglichen Stellen sammelten. Eine weitere von Hannes Gewohnheiten. Manchmal konnte man meinen, dass Glück hänge an der Einhaltung von Sinnsprüchen.
Sie musste den Müllabfuhrkalender etwas zur Seite schieben, um ihn lesen zu können:
Warum sollte ich über etwas, dem sich abhelfen lässt, unglücklich sein? Ist hingegen keine Abhilfe möglich, wozu wäre es dann gut unglücklich zu sein. Shantideva
Diesen fernöstlichen Gedankengängen konnte sie meist nicht folgen. Für solcherlei Sinnsprüche hat sie noch weniger übrig, als für jenen ihre Großmutter, die sie immer mit ›Morgenstund hat Gold im Mund‹ in der Kindheit nervte. Es war in ihren Augen nur eine billige Begründung früh aufstehen zu müssen, mehr nicht.
Sie las den Satz immer und immer wieder. Sie versuchte, ihn zu verstehen. Das stete Wiederholen lies sie mit der Zeit etwas von der tieferen Bedeutung erahnen.
Warum sollte sie über das Verschwinden von Hannes unglücklich sein? War das gemeint? Wenn es allein an ihr lag etwas zu verändern, dann hatte sie auch die Macht dazu. Und wenn es in ihrer Macht etwas zu verändern, brauchte sie auch nicht unglücklich, dass Hannes sich auf seine Weise davon gemacht hatte, weil sie den Schlüssel für sein Wiederkehren in der Hand hielt.
Lag es jedoch nicht in ihrer Hand, weil Hannes mit seiner frischen Liebe durchgebrannt war, dann brauchte sie genauso wenig unglücklich sein. Ihr Unglück darüber würde an dem Umstand doch nichts ändern.
Ihre Gedanken stiegen in eine für sie ungewohnte Tiefe hinab. Sie, die doch eher das Handfeste liebte, sich von daher auch nie so recht Hannes oft sehr philosophischen Gedankengängen hingeben konnte, sie spürte mit einem Mal etwas in sich, was neu war. Eine Klarheit der Gedanken, die ihr bislang fremd war.
Sie ließ sich treiben, ohne direkt weiter zu denken. Gedankenloses Denken. Gab es dazu nicht auch so einen dämlichen Sinnspruch. Sie verwarf diesen Gedanken und gab sich allem Vorgedachten, noch nicht Ausgedachten hin.
Eine Gelassenheit und innere Ruhe nahm von ihr Besitz.
Sie beschloss, noch einen Spaziergang zu machen. Das schlechte Wetter konnte sie nicht davon abhalten. Der Sommer schien vorüber. Es war merklich kühler geworden.
Sie kehrte erst wieder zurück, als es schon dunkel war. Sonst mied sie die Dunkelheit, wo sie nur konnte. Sie hatte etwas Beängstigendes. Daran hatte sich auch mit zunehmendem Alter nichts verändert. Heute jedoch hatte die Dunkelheit für sie etwas Beschützendes. Keiner sah. Unbemerkt konnte sie ihres Weges gehen. Wurde von keinem angesprochen.
Erst bei ihrer Rückkehr bemerkte sie die Tageszeitung, die immer noch auf der Fußmatte lag. Sie ließ sie liegen. Sollte der Zeitungsbote Morgen doch denken, sie seien verreist.
Als sie den Flur betrat, klingelte das Telefon. Sie zögerte, ob sie in die Küche eilen sollte. Sie entschied sich dagegen. Stattdessen zog sie sich in aller Ruhe aus. Streifte sich ihren bequemen Jogginganzug über. Ging ins Wohnzimmer und feuerte den Kamin an.
Sie öffnete eine Flasche Wein. Vor dem Kamin sitzend schaute sie lange in die auflodernden Flammen. Der Kamin verströmte eine angenehme Wärme. In Gedanken ließ sie nochmals die letzten beiden Tage passieren. Die Unruhe des Tages war gewichen. Irgendwann schlief sie ein.
In der Nacht wurde sie kurz wach. Im Kamin waren die Holzscheite zu einem Haufen Asche zusammengefallen. Die wohlige Wärme war verflogen. Sie griff zur Wolldecke und mümmelte sich ein. Den Rest der Nacht verbrachte sie auf der Coach. Sie schlief tief und traumlos.