Hors Saison I,VII

Hors Saison Titelbild

Voller Tatendrang begann sie den nächsten Tag. Nach einem ausgiebigen Frühstück, sie hatte seit Tagen wieder mit richtigem Appetit gegessen, bestellte sie erst einmal die Tageszeitung ab. Sie teilte dem Aboservice mit, sie wären im kommenden Monat verreist. Die Ausgaben würde sie gerne dem städtischen Altenheim für die Zeit ihrer Abwesenheit zur Verfügung stellen.
Einen Monat. Sie fand sich mutig. Würde Hannes wirklich so lange fortbleiben. Sie konnte sich dies mittlerweile gut vorstellen. Nicht, dass sie seine alltäglichen Schrulligkeiten und Gewohnheiten nicht vermissen würde. Aber sie wollte erst einmal ohne ihn klarkommen. Die Tage so verbringen, als ob es ihn nicht gäbe. Ob ihr das gelang?
Etwas fürchtete sie immer noch ihre Stimmungsschwankungen. Diese waren in den letzten Monaten zum Teil so extrem geworden, dass sie die Atmosphäre zwischen Hannes und ihr sehr beeinflusst hatten. Von einem Moment auf den anderen konnte alles ins Gegenteil umschlagen. Euphorie in tiefste Niedergeschlagenheit. Depression in äußerste Ausgelassenheit. Hannes hat darüber oft nur noch verständnislos den Kopf geschüttelt.
Früher hatte sie diese Gemütsschwankungen auf ihre bevorstehenden Tage zurückführen können. ›Ich fühle mich wie ein rohes Ei‹, pflegte sie entschuldigend zu sagen.
Sie hatte immer gehofft, mit den Wechseljahren würde dieses Auf und Ab ein Ende nehmen. Leider stellte sich dieser Gleichklang in ihr nicht ein. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck, sie sei noch viel sensibler geworden. Sie wusste schon seit geraumer Zeit, warum manche Frau von Seniorenpubertät sprach.
Spontan musste sie an manche Achterbahnfahrt mit Lea vor Jahren denken. Die Zeit mir ihr war alles andere als leicht gewesen. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie ihrer Mutter das Leben bisweilen auch so zur Hölle gemacht hatte. Eigentümlich, frau hätte doch erwarten können, dass gerade in dieser Hinsicht eine verschworene Solidarität herrschte. Leider war es damit oft nicht viel her. So war ihre Erfahrung. Frauen wären sich gegenseitig doch eher suspekt. Ob man in jeder anderen Frau nur die potentielle Rivalin sehen konnte?
Sie musste an Hannes denken. Hatte er vielleicht doch etwas mit einer anderen. Sein Verschwinden würde dann Sinn machen. Wahrlich musste er sich einfach klar darüber werden, wen er die nächsten Jahre an seiner Seite wissen wollte.
Auf welchen Typ Frau stand Hannes eigentlich. Sie überlegte. Ihr viel es schwer, sich Hannes mit einer anderen Frau vorzustellen. All die Jahre hatte er ihr stets das Gefühl gegeben, als sei sie die Frau seines Lebens. Könnte eine andere an diese Stelle treten. Wenn ja, warum?
Sie spürte, wie ihr Nachdenken sie immer unruhiger werden ließ. Tränen stiegen auf. Aus Trauer darüber, dass Hannes mit einer anderen durchgebrannt sein könnte, oder doch eher aus Wut, weil sie mit ihren Gedanken schon wieder bei Hannes war. Für einen Augenblick hasste sie sich selbst, für ihre nie endenwollende Suche nach Verstehen, wenn es um andere ging.
›Schluss damit‹, sagte eine Stimme in ihr. ›Für den heutigen Tag Schluss damit, andere zu verstehen, bevor ich mich selbst verstanden habe. Heute ist mein Tag. Tag fünf ohne Hannes.‹
›O … ha …‹, murmelte sie leise vor sich hin. Oha, sie musste über ihren eigenen Wortwitz schmunzeln.
Ob sich doch noch alles zum Besseren wenden würde, wusste sie nicht. Aber sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich wieder ihre innere Mitte zu finden.
Was war ihr dieser innere Frieden wert? Sie war bereit, vieles in Kauf zu nehmen. Auch auf Hannes dauerhaft zu verzichten? Hierin war sie sich noch sehr unsicher. Sie beschloss, auch dieser Frage für den Augenblick nicht weiter nachzugehen.
Für den heutigen Tag fasste sie nur einen Entschluss: Sie wollte sich treiben lassen. Ganz in den Tag hinein leben.
Sie saß lange im Garten, beobachtete ihre Umgebung. Erst hörte sie einfach dem Gezwitscher der Vögel zu. Sah ihrem Treiben zu. Bald schon wurde sie ein Teil des Gartens.
Die Vögel verloren ihr Interesse an dem Fremdling. Sie vergaß alles um sie herum. Ihr Kopf war voller Vogelstimmen. Sie versuchte, die verschiedenen Vogelarten zu bestimmen. Allmählich hörte sie ein Wechselspiel der Stimmen heraus.
In Gedanken entspannen sich ganze Dialoge. Emphatisch ging sie mit. Sie begann, den Mund zu bewegen. Schließlich imitierte sie die einzelnen Stimmen. Wenn sie den richtigen Ton traf, erhielt sie sogar Antwort.
Später dann schaute sie lange den vorüberziehenden Wolken nach. Freute sich an der außergewöhnlichen Wolkenbildung. Versuchte Gesichter oder ganze Figuren zu erkennen. Zeichnete dazu mit in den Himmel hinauf gestreckten Zeigefinger die Konturen nach.
Bisweilen entdeckte sie verwundert, dass Wolkenschichten sich aufeinander zu bewegten, sich trafen, kreuzten und dann wieder am Himmel weiterzogen, die eine über der anderen.
Das Schauspiel am Himmel erinnerte sie an das Treiben der Menschen. Auch sie gingen auf einander zu, trafen sich. Manchmal gingen sie ein Stück des Weges gemeinsam und dann zog wieder jeder seines Weges. So wie zwei unterschiedliche Wolkenschichten. Und jede Wolkenschicht blieb sie selbst. Nicht ganz, denn all zu oft gingen sie ja doch ineinander über, teilweise zumindest. Wenn dies dann doch gelegentlich passiert, wird es stürmisch. ›Wie im wirklichen Leben‹, dachte sie.

So vergingen die Stunden. Unmerklich. Sie genoss es, die Zeit, anderen hätten dazu wohl gesagt, totzuschlagen. Auch wenn es scheinbar nichts war, irgendwie war es sehr viel für sie. Zweckfrei und ziellos sich treiben zu lassen und mal nicht an andere zu denken.