Als sie müde wurde, legte sie sich in den Liegestuhl, schloss die Augen. Sie überkam eine fast meditative Stimmung. Sie, die doch so gar nichts davon hielt. In der Schule musste sie regelmäßig auf die Toilette, wenn die Klassenlehrerin wieder mal eine Mediation oder Phantasiereise machen wollte.
Gedanken kamen und gingen. Sie blieb nie allzu lange bei einem.
Denken und Loslassen.
Sie spürte, wie sie ruhiger wurde. Sie war auf einem guten Wege. Die innere Anspannung der letzten Tage, vielleicht sogar Monate, oder gar Jahre würde sich nach und nach auflösen. Behutsam, nicht abrupt. Um so wuchs der Wunsch in ihr, wirklich Zeit zu haben.
Es ist wie mit den Gezeiten, dachte sie. Alles kommt und geht. Wo heute noch eine Untiefe ein Stehen unmöglich macht, kann morgen schon eine Sandbank Sicherheit geben. Nichts war von Dauer.
Vielleicht könnte dies auch zwischen Hannes und ihr so werden. Alles zwischen ihnen wäre ein stetes Kommen und Gehen.
Nun war Hannes erst einmal weg. Würde er wiederkommen? Und wann? Dies brachten die Gezeiten des Lebens. Sie spürte eine Verbundenheit mit etwas, was über sie hinaus ging. Andere hätte hier von Gott gesprochen. Sie war aber völlig areligiös. Sie wunderte sich etwas über ihre metaphysischen Gedankengänge.
Und noch etwas wunderte sie. Sie hatte schon lange nicht mehr so viele Fragen gestellt wie in den letzten Tagen. Fragen, die unbeantwortet blieben, sie dennoch weder unsicher noch ängstlich werden ließen. Konnte es sein, dass Fragen einen Zugang zu einem tieferen Sein eröffneten?
›Wer keine Frage mehr stellt, der ist fertig mit dem Leben.‹ Dies hatte ihr Großvater oft gesagt.
Lagen viele Probleme, die sie mit Hannes hatte, darin, dass sie lieber Antworten von ihm hörte. Sie hasste nichts mehr, als Fragen mit Gegenfragen zu beantworten. Wenn aber das Fragen eine Art Haltung widerspiegelte, wenn Fragen zu stellen bedeutete, offen zu sein. Offen für etwas das lange nicht mehr oder noch nie war. Der Fragende eigentlich nichts anderes zum Ausdruck bringen wollte als: ›Es könnte auch anders sein.‹
War darin Hannes nie endenwollende Freude am Philosophieren begründet? Mit seinen Fragen wollte er sie weder in Frage stellen oder kritisieren, noch sie als Frau, Partnerin und Mutter in ihrem Sein verunsichern. Vielleicht stellte er auf seine Weise nur die eine immer wiederkehrende Frage: ›Denk darüber nach, ob die Welt, die du dir in deinem Kopf zu Recht gezimmert hast, die einzige aller möglichen Welten ist.‹
Und dieses Infragestellen war im eigentlichen Sinne keine Frage, es vielmehr die Einladung darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten es noch gibt, die Dinge zu sehen. Wie das eigene Leben und das Zusammenspiel mit anderen noch gestaltet werden können.
So gesehen wurde ihr mit einem Mal klar, konnte man gar nicht aufhören, das Leben als Konstante in Frage zu stellen.
Plötzlich war sie Hannes richtig dankbar, dass er fortgegangen war. Dass er sein Fortgehen nicht erklärt hatte. Es hätte sie wieder nur genötigt, sich am Offensichtlichen festzubeißen. Sich darüber zu ärgern und in diesem Zustand zu verharren. Bitter und gallig zu werden, wie sie es so gut konnte. Ein Verhalten ohne Perspektive.
Es hätte sie wieder nur mit ungeheurer Sogwirkung in die tiefsten Abgründe und Höllen des eigenen Ichs hinabgezogen. Dorthin hatte Hannes sie schon lange nicht mehr begleiten wollen. Er zog sich regelmäßig zurück, wenn sie bitter und gallig wurde. Was sie dann noch bitterer und galliger machte. Wie konnte er nur so ignorant sein. ›Schließlich gehörten zu allem doch immer auch zwei.‹ Ihr Wahlspruch.
Vielleicht war es ihr eigenes Terrain, auf dem sie aus welchen Gründen auch immer glaubte, verharren zu müssen. Ein Terrain, das nicht hervorbrachte als Destruktivität in allen nur erdenklichen Ausprägungen und Schattierungen.
Es gab sicherlich einen anderen Grund für das Verschwinden von Hannes. Eines wurde ihr jedoch klar. Hannes Verschwinden hatte sie genötigt, ihr destruktives Spiel zu beenden.
Sein Verschwinden führte dazu, ihr Leben, ihr Sein in Frage zu stellen. Und dadurch, das spürte sie ganz deutlich, dadurch war sie im Begriff wieder offen zu werden für etwas, von dem sie noch nicht wusste, was es sein würde.