Ihr Leben wieder als eine Möglichkeit zu betrachten machte sie glücklich. Sie strahlte. Als sei die Sonne gerade in ihr aufgegangen. ›Was für ein Tag‹, dachte sie. Sie fühlte erfüllt und reich beschenkt. Das Leben meinte es doch nicht so schlecht mit ihr.
Und so als wollte sie sich selbst noch eins auswischen, sagte sie laut hörbar »Danke Gott. Danke für diesen außergewöhnlichen Tag.«
Sie musste über sich selbst schmunzeln. Sollte dies eine Art Stoßgebet gewesen sein. Von ihr, der passionierten Atheistin. ›Mal schauen, was das Leben für mich noch so bereithält‹, dachte sie, als sie früh zu Bett ging.
Erst gegen Mittag erwachte sie aus einem tiefen und schweren Schlaf. Der sechste Tag ohne Hannes: Oha!
Heute wollte sie auf Entdeckungsreise aufbrechen. Sie wollte erleben und erfahren, ob die Welt, die sie bislang für die einzige aller möglichen Welten gehalten hatte, nicht noch ein ganz anderes Gesicht habe.
›Fängt die Entdeckung neuer Welten nicht immer auch mit der Überwindung alter Vorstellungen zusammen‹, fragte sie sich, als sie ihrem Bett entstieg? Der Tag beginnt mit einer neuen Frage. Dieser Gedanke hatte etwas Belebendes.
Sie holte aus dem Keller die alte Reisetasche. Schon oft hatte sie dieses Relikt aus alten Zeiten auf den Sperrmüll stellen wollen, hatte diese Absicht im letzten Augenblick doch immer verworfen. Zu viele Erinnerungen waren mit ihr verbunden. Sie war eines der Gegenstände, von denen sie sich irgendwie doch nicht trennen konnte. Vielleicht oder gerade deshalb, weil sie sie von ihrem ersten eigenen Geld gekauft hatte. Es war noch vor der Zeit mit Hannes. Sie war Studentin an der Kunsthochschule, jobbte nebenbei in einem Café und hatte bald schon das Geld zusammen für jene Reisetasche, die ihr Dasein seit längerem herrenlos in der Auslage eines kleinen Ledergeschäfts fristete. Als sie zielstrebig auf sie deute, die Frage, ob man ihr noch andere aktuellere Exemplare zeigen dürfe verneinte, schaute die Verkäuferin sie skeptisch an, so als könne sie nicht glauben. Offensichtlich konnte sie nicht glauben, dass sie nun doch jemanden gefunden habe, der sich ihrer annahm. Zu lange war sie schon Teil der Auslage, wie das durch die Sonne verblichene sandfarbene Tuch, das jahrein jahraus in den Sommermonaten als Unterlage diente. Als sie den Laden glücklich über ihren Kauf verließ, dachte sie, es gibt eben Dinge, die länger auf ihren Besitzer warten müssen.
Das Oberleder war über die Jahre brüchig geworden. Den Reizverschluss hatte sie vor Jahren beim Schuhmacher um die Ecke erneuern lassen. Und von dem Verschluss, der einst schmuckvoll die Tasche geziert hatte, waren seit Jahren nur die Riemen erhalten. Sie hingen herab und sie hatte schon oft daran gedacht, diese einfach abzuscheiden. Seltsam, wie sehr sie doch an ihr hing, dachte sie, als sie sie auf dem Bett vor dem Kleiderschrank abstellte.
Dinge zu sammeln, sich von ihnen nicht trennen zu können, dies war eher ein Charakterzug von Hannes. Die Kinder hatten so manchen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn nach einer Aufräumaktion so allerlei Dinge, die zwar kaputt waren, für sie beim Spielen immer noch unerlässlich waren, den Weg in die Mülltonne fanden. Manchmal hatte sie Glück, bemerken den Verlust frühzeitig und mussten nicht wehmütig dem Müllauto nachschauen.
Hier war sie es, die an etwas festhielt. Hielt sie auf gleiche Weise an Hannes fest? Gehörte er über die vielen Jahre so sehr zu ihrem Inventar, dass ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellbar war? Sie schüttelte leicht den Kopf. Nein, heute ist kein Platz für Hannes. Weder hier in der Tasche noch in meinen Gedanken.
Als sie vor dem Kleiderschrank stand, überlegte sie, was sie mitnehmen wollte. Aus dem Nachdenken wurde eine Art Modeschau. In den nächsten zwei Stunden zog sie fast jedes Kleidungsstück an. Betrachtete sich im Spiegel.
Immer wieder sah sie kritisch und doch wohlwollend in den Spiegel. Sie hatte sich verändert. Sie überlegte, ob sie alt geworden sei. Von Alter sprach in ihrem Freundeskreis kaum einer. Niemand wollte offen zugeben, dass die Jahre ihre deutlichen Spuren hinterlassen hatten. Sie betrachtete ihr Älterwerden eher mit Erleichterung. Der Kampf um jede Falte war ausgekämpft. Trotz Falten sahen sich Männer immer noch nach ihr um. Hannes hatte … Sie hielt inne.
Eine innere Stimme erklang:
›Klara, du wolltest heute keinen Gedanken mehr an deinen Mann verschwenden.‹
›Ist schon gut‹, erwidert im Zwiegespräch mit sich selbst.
›Ich, ich wollte doch nur erwähnen, dass es Hannes war, der stets betonte, dass er an ihr vor allem ihre Ausstrahlung liebe. Es kann doch nicht so schlimm sein, sich an etwas Positives zu erinnern. Oder?‹
›In Ordnung‹, sagte daraufhin die andere Stimme in ihr, ›wir treffen eine Abmachung. Dir sollen positive Gedanken an Hannes erlaubt sein. Aber nur so lange, wie sie dir gut tun und dich nicht wieder zum Trauerklos werden lassen.‹
›Abgemacht.‹
Sie sah sich im Spiegel an, ließ sich aufs Bett in den Berg Kleidung fallen und musste laut lachen.
Als sie mit Packen fertig war, war ihre Hälfte des Kleiderschranks komplett geleert. Es musste für den ins Schlafzimmer tretenden Betrachter sehr sonderbar aussehen.
Sie beschloss, es bei der Unordnung zu belassen und verließ das Schlafzimmer. Sollte Hannes bei seiner Rückkehr doch denken, was er wolle. Im Türrahmen drehte sie sich nochmals kurz um, betrachtete das Chaos und dachte:
›Irgendwie sieht dies alles sehr mysteriös aus. Ein Scheiterhaufen meiner textilen Existenz, bereit zum Opfer.‹
Als sie Schuhwerk, Regenjacke in die verbliebenen Lücken ihrer Reisetasche gezwängt hatte, überlegte sie, ob sie die Absicht ihres Verschwindens zumindest den Kindern transparent machen sollten. Sie erwog, sie kurz anzurufen, verwarf den Gedanken aber sofort.
Insgeheim wünschte sie ihnen qualvolle Stunden des Grübelns, was nun, nachdem ihr Vater das Weite gesucht habe, nun auch die Mutter bewogen haben mochte.
Sie ging in die Küche, um ihre Handtasche zu holen. An der Garderobe war sie nicht. Wahrscheinlich hatte sie sie vor Tagen einfach in der Küche abgelegt. Als sie die Küche wieder verlassen wollte, viel ihr Blick auf Hannes Zettel auf der Anrichte. Es durchzuckte sie. Aber anders als befürchtet, war darin etwas sonderbar Angenehmes.
Sie griff zum Stift, der neben dem Zettel lag und schrieb unter die Zeilen von Hannes:
P.S. Ich auch – mache eine kleine Reise.