Rätsel ratend verbrachte sie nächste Stunden. Sie brauchte einige Zeit, um wieder in die Welt des Sudoku einzutauchen. Ehrgeizig, wie sie sein konnte, wählte sich gleich eines der schwereren Rätsel aus. Minuten vergingen, in denen es ihr einfach nicht gelingen sollte, eine Zahl zu ergänzen. Sie war versucht, im Anhang nachzuschlagen. Unterließ es dann doch und schaute angespannt auf die wenigen Zahlen und vielen leeren Felder. Endlich fand sie die erste Zahl, dann schnell die Zweite. Schon war es ihr, als sei der Rest nur noch eine Frage von weinigen Minuten. Dann kam ihr Suchen und Finden erneut ins Stocken.
Aus Erfahrung wusste sie, dass sie sehr lange über einem einzigen Rätsel brüten konnte. Manches Mal verging gut eine Stunde, bis sie endlich die letzte Zahl mit kontrollierendem Blick eintrug. Meist wandte sie den Blick sogleich aufs nächste Sudoku, so als wolle sie sich selbst beweisen, dass es auch schneller ginge.
Nils uns Lea hatte sich nie für die Welt des Sudoku begeistern können. Sie verstanden nicht, wie sie über Stunden einer solch nutzlosen Beschäftigung nachgehen konnte.
»Es entspannt mich«, hatte sie zu erklären versucht.
»Entspannt!? Mama, du siehst alles andere als entspannt aus. Du müsstest mal dein Gesicht sehen. Es spiegelt pure Konzentration und Anspannung wieder.«
»Das mag sein«, entgegnete sie. »Gleichzeitig entspannt es mich, ohne recht sagen zu können warum. Vielleicht, weil ich für eine Zeit alles um mich herum vergessen kann. Einfach bin und nicht nur funktioniere. Und sei es nur, um mich zu fragen, was heute noch an Verpflichtungen auf mich wartet.«
»Da weiß ich mit meiner Zeit aber Sinnvolleres anzufangen«, erwiderte Nils.
»Dann würde ich an deiner Stelle eher in die Werkstatt gehen und am neuen Auftrag arbeiten. Immerhin machst du ja sehr kreativ Sachen.«
»Sachen, es sind Skulpturen, einzigartigen Schöpfungen. Unikate.«
Sie überlegte kurz, ob sie weiter reden sollten. Sie wollte sich nicht in ein Gespräch, das vom Hölzchen aufs Stöckchen kam, verwickeln lassen. Stattdessen suchte sich dem ultimativen Satz, der diesem unergiebigen Gespräch ein Ende versetzte.
Auch jeder Auftragsarbeit von mir ist bei aller Kreativität Arbeit. Termindruck ist selten förderlich für die Kreativität. So geht es mir jedenfalls.
»Mama«, mischte sich Lea ein, du bist doch gar nicht darauf angewiesen, damit Geld zu verdienen. Papa …«
Weiter kam sie nicht. Sie unterbrach sie brüsk.
»Ich glaub’s nicht. Dies von dir zu hören. Von dir, die du seit Jahren tönst, sie werde nicht heiraten und Kinder kriegen schon gar nicht. Was willst du mir damit eigentlich sagen?«
Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr sie sogleich fort.
»So, ich beende hiermit unser Gespräch. Ihr könnt mich wieder meinem sinnentleerten Treiben überlassen.«
Kurz sah sie auf, schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Sah die Landschaft im Abendrot vorübereilen, ohne Einzelheiten wahrzunehmen.
Sinnvoll oder sinnentleert. Warum nur zog sie dieses Spiel so in den Bann? Das regelmäßige Stocken gehörte wesensmäßig dazu, ebenso wie inne gehörige Portion Frustration. Beides war vorprogrammiert. Einem völligen Scheitern konnte man nur durch gezielten Blick in den Lösungsanhang entgehen. Nur diese eine Zahl, dann geht es sicherlich wie von selbst weiter. Unter diesem inneren Vorwand, begann man zu blättern. Suchte Bestätigung, wurde überrascht, was die Frustration an den Rand des Abbruchs brachte.
Scheitern kam letztlich nicht in Frage. Also erneutes Suchen, um endlich doch zu finden, was mehr als offensichtlich war. Dieses Auf und Ab, das Gefühl hin und her geworfen zu werden, all dies machte zweifelsohne die Faszination des Spiels aus. Und bei allem war man ganz sich selbst überlassen. Scheitern und Erfolg fanden auf einer inneren Bühne statt, zu der kein anderer Zutritt hatte. Hauptdarsteller und begeisterndes Publikum im einen.
Etwas, das in sich selbst genug hat, keines weiteren Sinnes Bedarf als für geraume Zeit zu sein. Was im Leben war wirklich schon sinn- und zweckfrei. Waren nicht die meisten Dinge im Leben auf offensichtliche oder geheimnisvolle Weise miteinander verbunden. Selbst ihre Reise verdankte sie dem äußeren Anlass, dass Hannes verschwunden war. Aus sich selbst heraus wäre sie kaum aufgebrochen. Es mochte noch so sinnvoll sein.
Geschafft. Sie hatte bereits das zweite Sudoku gelöst. Sie sah auf die Uhr. Noch keine Stunde für zwei so schwere. Das konnte sich sehen lassen. Im Spiegelbild des Zugfensters konnte sie sich zufrieden lächeln sehen.
Eins schaffe ich noch bis zum Hafen, dachte sie und fuhr fort.
Es dauerte keine fünf Minuten und schon kam sie ins Stocken. Ihr Blick ging die Kästchen auf und ab, konnte aber keine weitere Zahl ausmachen, die sie hätte eintragen können. Sollte sie hinten nachschlagen. Ihr Ehrgeiz entschied sich dagegen. Stattdessen tat sie etwas, das wie ein Ritual zum Spiel gehörte. Sie sah auf, ließ den Blick ziellos schweifen, so als würde sie damit für Augenblicke Zerstreuung suchend die innere Konzentration zurückgewinnen.
Während sie völlig vertieft Zahlenkombination erwog, ausschloss und dann endlich wieder die nächste ersehnte Zahl fand, bemerkte sie nicht, wie eine ältere Dame das Abteil betrat, freundlich grüßte und gegenüber von ihr am Fenster Platz nahm.
Erst als der Zug die Fahrt verlangsamte und fast gleichzeitig zufrieden die letzte Zahl eintrug, lies sie das Sudokuheft auf den Schoß sinken und bemerkte beim Aufsehen, dass sie nicht mehr alleine im Abteil war.
Sie grüßte und die ältere Dame grüßte freundlich zurück, so als sei sie gerade erst zugestiegen. Sie hatte keine Lust auf weiter gehende Konversation, packte ihre Sachen, wünschte der älteren Dame noch eine gute Fahrt und verließ das Abteil. Aus dem Zugfenster konnte sie die Lichter der Hafenanlagen bereits erkennen.
Sie freute sich auf die Überfahrt mit dem Schiff. Das letzte Mal war sie mit dem Schiff über den Kanal gefahren. Ihr war fürchterlich schlecht geworden. Fast die gesamte Fahrt hatte sie den Kopf über die Reling haltend verbracht. Sollte ihr wieder übel werden, so könnte sie auf den Komfort ihres eigenen Kabinenklos zurückgreifen. ›Wenn ich so weit komme‹, dachte sie.
Kurz vor Mitternacht legte die Fähre ab. Das Meer war still und die Überfahrt versprach ruhig zu werden.