Hors – Saison I,XI

Hors Saison Titelbild

Die Überfahrt hielt, was sich versprochen hatte. Klara konnte ruhig schlafen. Sie war schon wach, als der Wecker klingelte. Sie hatte ausreichend Zeit sich zu duschen.
Schon eine Woche, oha! Die letzten Tage ohne ihn war ein Wechselbad der Gefühle gewesen. Gefühle, die ihr zeigten, dass das Kapitel Hannes fast schon abgeschlossen schien. Ihre Verbundenheit war manchmal kaum noch spürbar. Jeder von ihnen ging seinen Weg. Die getrennten Tagesabläufe ließen kaum Zeit zur Begegnung. Sie waren sich in gewisser Weise fremd geworden.
Dann wiederum kam es über sie. Es ereilte sie meist ohne Vorankündigung. Es brach aus ihr heraus. Aus tiefstem Inneren stiegen die Gefühle herauf, wie die feurige Lava, aufstrebend, verzehrend. Augenblicklich brach sie in Tränen aus. Begann heftig zu schluchzen, so habe sie gerade frisch verliebt und ihr Auserwählter wolle rein gar nichts von ihr wissen.
Noch bis vor einer Woche wäre sie zu Maren geeilt, hätte ihre Zuwendung und Nähe gesucht. In den letzten Tagen spürte sie, dass es nicht um irgendeine Laune des Beziehungsalltags ging. Ein wenig Weinen, Fluchen, mit dem Schicksal hadern, dann aber doch wieder den Blick für den nächsten Tag frei bekommen.
Sie spürte deutlich, wie sich am Horizont ihres Beziehungshimmels ein Sturmtief zusammenbraute, von dem sie weder eine Vorahnung hatte, noch absehen konnte, wie es verlaufen würde.
Intuitiv dachte sie, es ist schlimmer als alles was ich bisher mit Hannes durchlebt habe. Sie konnte noch immer nicht sagen, was es war. Sie versuchte, in sich hineinzuhorchen. Vielleicht hatte das, was auf sie zukam, gar nichts mit Hannes zu tun. Vielleicht ging es allein um sie selbst.
In jedem Fall war der eingeschlagene Weg der richtige. Sie brauchte Abstand. Abstand von allem, was zu ihrem Alltag mit oder ohne Hannes gehörte.
Als sie in ihr ratloses Gesicht im Spiegel der Kabinentoilette sah, meinte sie etwas anderes hinter ihrer Ratlosigkeit zu sehen. Sie sah etwas, was sie an ihre Jugend erinnerte. An die Zeit der zahlreichen Konflikte und Auseinandersetzungen mit den Eltern. Oft stand damals lange vor dem Spiegel gestanden. Schaute sich selbst an, schaute in ihre Augen, durch sie hindurch, so als könne sie durch diese hindurch an einen anderen Ort blicken. Von Ferne schien da etwas, oder ein jemand ihr zuzureden. Machte ihr Mut, forderte sie auf, ihren Weg zu gehen. Früher hatte sie es als die Urkraft in ihr gesehen. Etwas von dem her und das hin sie lebte.

›Das ist nichts anderes als Gott, der dich anschaut‹, sagte ihre Großmutter eines Tages, als mal wieder bei ihr Zuflucht gefunden hatte.
Sie war gerade vierzehn geworden. Die Welt in ihr und um sie herum schienen sie in ein ständiges Chaos zu stürzen. Sie besuchte ihre Großmutter regelmäßig. Diese war damals schon Witwe. Ihr Großvater war früh an Krebs verstorben.
Omi Lo, wie sie sie liebevoll nannte, war in jener Zeit wichtiger als ihre eigene Mutter geworden. Es was nicht einfach der Umstand, dass ihre Mutter, nachdem sie aus dem Gröbsten, wie sie es immer genannt hatte, heraus sei, wieder in der Apotheke zu arbeiten begonnen hatte. Mit Omi Lo verband sie mehr. Es war eine Art innere Seelenverwandtschaft.
Omi Lo hieß in Wirklichkeit Elisabeth. Vermutlich war dies für sie als Kind zu schwierig auszusprechen gewesen. Und weil innerhalb der Familie Omas immer schon mit Omi angeredet worden waren, kam es vermutlich, dass sie eines Tages auf der Suche nach passenden Anrede für ihre Großmutter, die sie über alles liebte, die zunächst ungewöhnliche und zugleich doch so wohlklingende Wortschöpfung ersann: Omi Lo. Seitdem nannte alle sie so. Selbst ihre beste Freundin Erna.
Omi Lo hatte nicht nur Verständnis für ihre Seelennöte, ob die unglückliche Liebe zu Kai, der sich unsäglicherweise in ihre beste Freundin Pia verliebt hatte, oder wenn es zu Hause mal wieder mit ihren Eltern so unerträglich geworden war, dass sie ihren kleinen Koffer packte, den Schultornister überschmiss und sich für die nächsten Tage erst mal wieder bei Omi Lo einquartierte.
Omi Lo wohnte nicht weit weg. So war sie zu Fuß nach wenigen Minuten bei ihr und klingelte. Omi Lo konnte an der Art ihres stürmischen Klingelns erkennen, dass sie vor der Tür stand und um Einlass bat.
Stets empfing sie sie mit einem verschmitzten Lächeln, kochte ihr erst einmal eine heiße Schokolade, während Klara sich im Gästezimmer einrichtete.
›Na, was hat meine Große denn heute wieder für Sorgen. Wo drückt der Schuh. Setzt dich und erzähl.‹
Währende Klara erzählte, höre Omi Lo einfach nur zu. Sie begann erst wieder zu reden, wenn sie ausgeredet und sie einige Minuten schweigend nebeneinandergesessen hatten.
Was Klara so sehr an Omi Lo schätze, war die Tatsache, dass sie ihr einfach zuhörte. Sie war so anders als ihre Mutter, die selten das Ende ihres Erzählens abwarten konnte, sie frühzeitig unterbrach, um ihr dann ihre ultimative Sicht der Dinge aufzudrängen. Von Omi Lo hörte sie nur selten beschwichtigende Worte wie ›Das wir schon werden.‹, ›So schlimm wird es doch nicht sein.‹ ›Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.‹
Omi Lo hat so etwas wie den magischen Durchblick. Sie sah durch die Dinge. Oder sollte sie sagen hinter die Dinge. Und sie war fromm. Sehr fromm.
›Mit meinem Heiland Jesus Christus kann mir nichts passieren.‹
Dies konnte Klara nie so recht nachvollziehen. Ihre Eltern hatte sie areligiös großgezogen. Sie war weder getauft, noch hatte sie je den Religionsunterricht besucht. Was sie nie als Makel ansah.
Wenn Omi Lo über ihren Glauben sprach, konnte sie nie so recht glauben, dass dies von der gleichen Person ausgesprochen wurde, die ihr gleichsam in so vielen Stunden ihres Lebens vertraut geworden. Für Klara war Omi Lo eine durch und durch handfeste Persönlichkeit. Ihre Frömmigkeit passte so gar nicht dazu. Sie, die wundervoll zuhören konnte, die es immer aufs Neue verstand, sie aus dem tiefsten Jammertal hinaus zu führen, hielt sich an für Klara unfassbaren Dingen fest.
Der Glaube ihre Großmutter wurde Klara jedoch nie zum Zerwürfnis. Sie gehörte einfach zu ihr, wie andere ein Leben lang eine dicke Warze mit sich herumtragen.
Während sie immer noch regungslos in sich hineinschaute, erfasste mit einem Mal eine ungeheure Wärme. Hitze stieg in ihr auf. Sie war irgendwie anders als die Hitzewellen ihrer Seniorenpubertät? Es war, als ob jemand hinter ihr stände, sie von hinten innig und fest umarmen würde. Für Augenblicke schloss sie die Augen und gab sich diesem Gefühl hin.

Das Tuten eines Schiffes riss sie aus den Gedanken. Sie würden in Kürze im Hafen einlaufen.
Als der Zug später wieder die Fahrt fortsetzte und sie das Zugabteil betrat, saß die ältere Dame schon auf ihrem Platz. Sie begrüßten sie kurz. Diese schaute sie freundlich und verständnisvoll an. Sie machte keine Anstalten ein Gespräch zu beginnen. Klara schien auch ohne Worte deutlich zu zeigen, wie sehr mit sich selbst beschäftigt war. So saßen sie sich die nächsten Stunden schweigend gegenüber.

Klara schaute die meiste Zeit mit abwesendem Blick aus dem Fenster, nahm kaum Notiz von ihrer Umgebung. Sie bekam auch nicht mit, als später ein junger Herr hinzustieg und in einer ihr fremden Sprache grüßte.

Am späten Nachmittag hatte sie ihr erstes Etappenziel erreicht.