Hinter der nächsten Straßenecke verlangsamte er seinen Schritt. In der Rechten hielt er die eben erstandene Packung Zigaretten. Was sollte er damit. Er war Nichtraucher. Immer schon. Von wenigen Ausnahmen abgesehen. Jene paffenden Nachmittage als Jugendlicher im vom elterlichen Haus nahe gelegenen Wäldchen. Diese Anflüge vermeintlicher Männlichkeit hatte er stets mit Übelkeit bezahlt. Die wenigen Male später in geselliger Runde bei Bier oder Wein waren ihm kaum besser bekommen.
Er war im Begriff die Packung in den nächstgelegenen Papiereimer fallen zu lassen, als der Blick eines Passanten auf ihn aufmerksam wurde und ihn daran hinderte. Was tun?
Zurück in den Tabakladen zu kehren, war unmöglich. Was sollte er der jungen Frau sagen. Den Anflug von Gefühlswallung in sich zu erklären versuchen? Die Wahrheit sagen?
›Entschuldigen Sie bitte, ich rauche gar nicht.‹ Wie grotesk. Jeder Versuch, sich zu erklären, würde das Unerklärbare noch missverständlicher werden lassen, ihn zurück in ein Labyrinth längst vergessener Gefühle verschleppen, als alternder Jüngling Minotaurus zum Opfer geweiht, ohne Aussicht sich mit jenen Faden der Ariadne zu retten.
Gemäßigten Schrittes kam er an einem Café vorbei. Während die eine Hirnhälfte noch Für und Wider abwog, waren die Synapsen der anderen besseren Hälfte schneller. Angelockt vom Duft eines frisch aufgebrühten Kaffees ließen sie den Körper kurzer Hand an einem kleinen Bistrotisch Platz nehmen. Er legte die die Packung Gauloises auf dem Tisch ablegen.
Er bestellte einen Café au lait. Die aufmerksame Bedienung brachte mit dem Kaffee einen Aschenbecher.
Gedankenverloren nahm er einen Schluck und verbrannte sich die Zunge. Leicht verärgert über seine Unachtsamkeit stellte er die Tasse deutlich hörbar auf die Untertasse zurück. Die Bedienung schaute für einen Augenblick auf, konnte aber nichts weiter erkennen, da er ihr den Rücken zugewandt hielt.
Wie die unbestimmte Zeit mit etwas aufzufüllen, ergriff er die Packung Zigaretten und las: ›Fumer nuit gravement à votre santé et à celle de votre entourage.‹
Das Rauchen die Gesundheit gefährdet, bedarf wohl keines gesonderten Hinweises. Und während er noch über die neuerlichen nicht zu übersehenden Hinweise nachdachte, öffnete er die Packung, entnahm ihre eine.
»Darf ich ihnen Feuer geben?«
Die Frau am Nachbartisch sah ihn freundlich lächelnd an.
›Wo sollte das nur enden‹, dachte er bei sich, wollte sich aber nicht die Blöße geben, oder sich gar schon wieder genötigt fühlen, eine Erklärung abzugeben und nickte stattdessen.
Er nahm einen kräftigen Zug, der sogleich ein fürchterliches Bellen auslöste. Gelassenheit vortäuschend griff er nach dem Taschentuch, um sich für alle deutlich hörbar zu schnäuzen.
Ohne Frage ein gelungenes Ablenkungsmanöver, etwas, was er aufs Trefflichste beherrschte. Den Rest der Zigarette paffte er zu Ende. Einem Kettenraucher gleich, als wolle er seiner Umgebung einen Beweis seiner wieder gefundenen Männlichkeit geben, brachte er es auf drei Gauloises auf einen Café au lait. Am Ende war er ganz benebelt. Er zahlte den Kaffee und verließ beschwerten Schrittes das Café.
Für den Rückweg zum Gasthof ließ er sich Zeit, kaum in der Lage, die verschiedenen Eindrücke auf dem Weg aufzunehmen. Die Hitze tat das ihre.
Er war froh, als er sich endlich auf das Bett in seinem Zimmer fallen lassen konnte. Dass er dies ganz entgegen seiner Gewohnheit in voller Montur tat, störte ihn wenig.
Frisch geduscht verließ er gegen acht den Gasthof, um im nahe gelegenen Restaurant Hors Saison Abend zu essen. Es hatte sich kaum abgekühlt.
Nach wenigen Schritten stand er wieder im eigenen Saft. Nicht lange würde es dauern und kleine Kaskaden würden ihn nach und nach unter Wasser setzen.
Einen Umstand, den er bei sportlichen Aktivitäten früher immer geschätzt, ja geradezu sehnsüchtig erwartet hatte. Umso mehr war ihm die Ausdünstung körperlicher Säfte bei der Arbeit, oder wie jetzt hier auf dem Weg zum Essen unangenehm. Als Kopfschwitzer, der er nun einmal war, denn zweifellos gab es an seinem ganzen Körper keinen Bereich, der schneller transpirierte, als solcher hasste er den versteckten Griff zum Taschentuch.
Dass Zuhörer während einer Lesung sein Schicksal mit ihm teilten, machte ihn nicht gelassener. Mit einem schnellen, geübten und kaum wahrnehmbaren Wisch über seine Stirn, war er in der Lage, ein Abtropfen auf sein makellos gebügeltes Hemd zu verhindern.
Ohne Zweifel würde er den Weg zum Restaurant nicht trocken hinter sich bringen. Sollte er umkehren. Sein knurrender Magen sprach dagegen. Von Ferne sah man ihn, gedrückt an die vorbeiziehenden Hausfassaden jeden Quadratzentimeter Schattens auszunutzen.
Aus dem Nichts einer Hausfassade näherte sich ihm mit wenigen Schritten gleichsam unbemerkt eine Gestalt. Mit sich uneins, ob er nun zur Pension zurückkehren sollte, nahm er sie kaum wahr.
Erst als sie schon längst an ihm vorbeigeschritten war, hielt er für einen Moment inne. Es war der Hauch eines ihm bekannten Duftes, der ihn aufmerken ließ.
Wie ein schnüffelnder Hund hob er die Nase leicht an. Tiefes Einatmen. Irgendwie kam ihm der Duft gekannt vor. Frauenparfum, ohne Frage. Aber davon lagen täglich dutzende in der Luft. Dieser Duft jedoch verbannt sich mit Erinnerung. Ein Duft nach frischem Gras, leicht süßlich und gleichzeitig mit leicht herb maskuliner Note.
Nochmaliges Einatmen. Konzentriertes Nachdenken. War nicht gerade jemand an ihm vorübergegangen. Er wandte sich um und konnte in etwas Entfernung eine Frauengestalt erkennen, die um die nächste Straßenecke verschwand. Neugierig wandte er sich um. Folgte.
Etwas verlegen sah er sich um. Hatte ihn gar jemand bei diesem Manöver beobachtet. Es war niemand außer ihm da und dennoch hatte er das Gefühl, durch die Häuserfassaden hindurch von neugierigen Augen betrachtet zu werden.
Während er dies noch dachte, hatte auch er die Straßenecke erreicht. Gespannt, die unbekannte Frauengestalt vor sich zu erblicken, beschleunigte er den Schritt.
Als er um die Ecke bog, war sie nicht zu erblicken. Wie vom Trottoir verschluckt. Ein Hauch ihres Duftes lag immer noch in der Luft. Dies ließ ihn weitergehen.
Ehe er sich versah, stand er wieder vor dem kleinen Tabakladen. Die Ladentür stand halboffen. Hinter der Ladentheke erkannte er die junge Frau wieder. Und neben ihr eine deutlich Ältere. Da fiel es ihm wieder ein. Hatte die junge Frau nicht vorhin von ihrer Großmutter gesprochen. Großmutter und Enkelin. Dies passte zum vertrauten Miteinander beider Frauen.
Spontan einzutreten? Danach war ihm. Wäre da nicht sein in seinen Augen peinlicher Auftritt von vorhin gewesen. Nach einem Ausweg Ausschau haltend, sah er sich um. Auf der gegenüberliegenden Seite erblickte er einen Bistro.
Er nahm am Fenster Platz. Von dort hatte er einen guten Blick auf den Tabakladen. Er bestellte einen Pastis. Er liebte diesen Aperitif, vor allem an heißen Sommertagen. Zudem gab es ihm als Fremden immer das Gefühl, irgendwie dazuzugehören. Ein Gast am Tresen prostete ihm zu. Er erwiderte den Gruß.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tat sich lange nichts. Passanten betraten den Tabakladen, um ihn wenig später wieder zu verlassen. Er war schon beim dritten Pastis angelangt, als sie endlich den Tabakladen verließ.
Hastig kippte er den Rest in sich, zahlte und eilte hinaus. Es dauerte eine Weile, bis er sich ihr auf Sicherheitsabstand genähert hatte. Er folgte ihr quer durch die Altstadt. Wie ein Rüde, der Fährte einer läufigen Hündin folgend. Minuten vergingen.
Unvermittelt blieb sie vor der Auslage einer kleinen Boutique stehen. Erst jetzt merke er, wie durchschwitzt er mittlerweile war. Panik ergriff ihn. So konnte er unmöglich vor die Unbekannte treten. Fluchtartig wandte er sich um, verschwand in der nächsten Seitengasse, blieb abrupt stehen und haderte mit seiner neuerlichen Entscheidung. So wankelmütig hatte er sich selbst schon lange nicht mehr erlebt. Was war nur los mit ihm, ein Anflug von Jugendlichkeit, die Sehnsucht nach dem längst vergessenen Abenteuer.
Dem Zeitgeist, dem Propagieren einer ewigen Jugend und einer nie endenwollenden Vitalität, hatte er sich mit zunehmendem Alter eher verweigert. Den Verlust der nie vorhandenen Haarpracht hatte kein Weh und Ach hervorgerufen, war Sinnbild der Vergänglichkeit. Es entlockte ihm stets ein Schmunzeln, besonders wenn er an die polierte Billardkugel seines Großvater denken musste.
Kürzlich hatte er noch einen merkwürdigen Traum. Nach dem Duschen hatte er zunächst vor dem Spiegel stehend eine Tennisball große Tonsur entdeckt. Ungläubig griff er an den Kopf und fühlte die kahle Stelle am Hinterkopf. Verwundert sah er sich an. Die kahle Stelle schien sich auszubreiten. Nach und nach fielen Büschel für Büschel seiner einst lockigen Haarpracht zu Boden. Am Ende war sein Schädel fast kahl. Einzig eine kleine Strähne fiel stirnabwärts.
Warum sich dem Zahn der Zeit widersetzen? Er hatte merklich an ihm zu nagen begonnen. Mit was auch? Mit Haarwäscherchen, Massagen, und wenn schließlich nichts mehr zu retten war, gar mit Haartransplantaten. Die Bilder einer Fernsehreportage hatten ihn mehr als abgeschreckt.
Ganz im Gegenteil, er hatte sich geschworen, doch lieber seinen dahinwelkenden Körper so zu nehmen, wie er sich veränderte. Gleichwohl fiel ihm gerade dies nicht immer so leicht. Seine in Anlehnung an jene Fernsehsendung genannten love handles hatten ihm anfangs doch hart zugesetzt.
Als dazu später der nicht mehr zu verleugnende Ansatz eines Bauches dazukam, ergab er sich wenngleich zunächst noch widerwillig seinem Schicksal. Den Vorschlag eines guten Freundes, ein oder zwei Mal die Woche einen nahe gelegenen Fitness-Club aufzusuchen, lehnte er dankend ab. Er hatte wenig übrig für die neuerlich entstandene Freizeitkultur. Lieber wollte er stolz Bauch tragen.
Dennoch, was würde er in diesem Augenblick dafür geben, in die Hülle eines Teenagers zu schlüpfen. Er würde sich wohler fühlen. Gerade jetzt bei all den sich regenden Gefühlswallungen und Sehnsüchten. In seiner Phantasie passten diese so gar nicht zu dem alternden Wrack, welches er sein beseeltes Eigen nennen durfte. Gefühle voller Lust und Leidenschaft in einem alternden Körper.
Schon als Kind war es ihm schwergefallen, sich seine Eltern bei lustvollem Liebesspiel vorzustellen. Das Terrain, welches er in der Pubertät als selbstverständlichen Ausdruck seiner Lebensgefühle kennen lernte und für sich in Beschlag nahm, auf diesem Terrain konnte er sich seinen sturen und aufbrausenden Vater und die introvertierte Mutter nur schwerlich vorstellen.
›Wie vermessen‹, musste er sich jetzt eingestehen, wo er den Jahren seiner Eltern noch einige hinzugefügt hatte. Seine intensiven Tag- und Nachträume ließen indes etwas von dem erahnen, was zumindest gedanklich für ihn noch greifbar war.
Feuer und Leidenschaft schienen nun in einen alternden Körper zurückgekehrt zu sein.