Hors Saison II,III

Hors Saison Titelbild

 

»Und jetzt!«
Ein kurzer Ruck und der Lenkdrachen stand am bedeckten Vormittagshimmel. Langsam, dann immer schneller bewegten sie sich hin und her. Ihr neonfarbenes Tuch leuchtete im von weißen Kumuluswolken durchzogenen Blau des Himmels. Zufrieden standen Vater und Sohn beieinander. Viele vergebliche Versuche waren vorangegangen. Nun endlich hatten sie es vollbracht.
Die ersten Lenkbewegungen waren noch sehr zaghaft. Der Vater hielt beide Spulen krampfhaft fest. Bedächtig zog er mal an der einen, mal an der anderen Leine. Zu sehr befürchtete er den schnellen Absturz.
Minuten vergingen. Minuten, in denen Vater mit jeder Lenkbewegung mehr und mehr eins wurde mit den beiden Farbklecksen am Himmel. Ein erster gewagter Looping folgte. Hektisches Hin und Her der Arme konnte den unvermeidlich scheinenden Absturz gerade nochmals abwenden.
Für ihn als Betrachter, zurückgelehnt im warmen Sand sitzend, hatte dies etwas Erheiterndes. Für den Vater was es Schwerstarbeit. Die Balance war wieder hergestellt. Sie zu halten wurde jedoch immer schwerer. Während über der See der Himmel noch seine tiefblaue von weißen Wolken aufgehellte Färbung zeigte, frischte der Wind langsam aber merklich auf.
Binnen kurzer Zeit zogen von Westen Gewitterwolken auf. Davon noch unbeirrt erfreuten sich Vater und Sohn des hüpfenden, fast schon in einem immer wiederkehrenden Rhythmus tanzenden Drachenpaares.
Der Himmel wurde mehr und mehr zu einem Ballsaal, auf dessen Parkett sich das Paar mit immer schneller werdenden Bewegungen von einer Seite zur anderen bewegte. Kaum noch zu halten, bewegte es sich, gleichsam wie in einen Rausch versetzt, der alle Regionen des Körpers aufwühlt und durchzuckt.
Auch er wurde ergriffen und spürte, wie es ihn gleichsam mit auf die Tanzfläche zog. Mit einem Mal war er selbst Akteur. Um Haltung gedacht bewegte er meinen Kopf zunächst langsam hin und her, bis sich sein ganzer Körper mitreißen ließ und aufging im Rhythmus des Tanzes.
Kleine Sandwirbel erhoben sich in die Luft. Die See begann, sich zu kräuseln. Das Spinnackertuch des Drachenpaares bläht sich merklich auf. Immer heftiger tänzelte es hin und her. Konzentriert und immer noch etwas verkrampft hielt der Vater die beiden Spulen in der Hand. Nichts konnte ihn und seinen Sohn aus ihrer Versunkenheit herausbringen.
Das vertraute Miteinander riss in für Augenblicke aus dem Hier und Jetzt. Seit seiner Ankunft in dem kleinen Badeort war er so sehr in die Gegenwart eingetaucht, dass er jede Verbindung zur Vergangenheit vergessen hatte.
Dabei waren es gerade drei Tage her, dass er Hals über Kopf ein paar Habseligkeiten in seine Reisetasche packte und fluchtartig aufbrach. Der Anlass, Ausgangspunkt seiner Flucht war wie in ein schwarzes Loch seines Unterbewusstseins verschwunden.
Nun aber schien es, als schleuderte ihn das gleiche Schwarze Loch zurück. Weit zurück. Es sah sich selbst, wie er vor Jahren eines Abends von der Arbeit kommend, Spinnakertuch in leuchtendem gelb und grellem grün, Haken, Schläuche, zwei Spulen und die Leine wurden auf dem Küchentisch ausgebreitet. Und da war noch der Schnittbogen, der sich kaum von dem unterschied, den seinerzeit die Großmutter zur Anfertigung des Taufkleides benötigt hatte. Aber ohne diesen ging es nun einmal nicht. Ungläubig hatte Nils dreingeschaut. Was, aus alledem sollte ein funktionstüchtiges Drachenpaar werden. Die Skepsis stand ihm ins Gesicht geschrieben und legte sich auch nicht, als die Fertigung voranschritt und erkennbare Formen annahm. Mit der Fertigstellung war die Skepsis seines Sohnes nicht gänzlich gewichen. Die Schönheit des Drachenpaares sagte ja noch nichts über die Flugtauglichkeit aus. Der äußere Schein konnte wie so oft allzu trügerisch sein. Nicht selten waren seine selbst gebastelten Papierflieger nach wenigen Zentimetern Flugstrecke kläglich abgestürzt. Die bevorstehenden Ferien mit dem Vater am Meer wurden mit großer Erwartung und voller Spannung entgegengesehen.

Schlagartig wurde es kühler. Irritiert sah er zum Himmel. Die Sonne war hinter den ersten Gewitterwolken verschwunden. Aber erst ein kaum hörbares Donnern aus der Ferne konnte ihn aus der Versunkenheit herausreißen. Unwillkürlich drehte er sich um. Schwarze Wolken näherten sich bedrohlich.
Seine Arme verschränkte er in der Hoffnung, auf diese Weise etwas von der wohligen Wärme, die seinen Körper eben noch wie einen schützenden Mantel umhüllte hatte, festhalten zu können. Welch ein unmögliches Unterfangen, jene alltägliche Versuchung, etwas auf Dauer festhalten. Als könne man das Erlebte und damit verbundene Gefühlte konservieren. Als ob sich beides mit all ihren Facetten quasi wie in einem Einmachglas für alle Zeiten einkochen und aufbewahren ließe. Das Konservierungsmittel muss erst noch gefunden werden. Und wer sollte diese merkwürdige Speise zu sich nehmen.
Und dennoch, vielleicht würde so eine längst ersehnte Hoffnung in Erfüllung gehen: endlich ein Ende mit der mühevollen Beziehungsarbeit. Endlich die Wende im Kampf der Geschlechter. Einfach, schnell und bequem. Irgendetwas, von dem er noch nicht so recht wusste, was es war, erhob Einspruch gegen dieses neue Wundermittel. Irgendwie graute ihm vor diesem schmerzlosen Zustand. Der Augenblick würde seine einmalige und einzigartige Ausprägung verlieren.
Erste Regentropfen rissen ihn aus den Gedanken. Die dunklen Regenwolken näherten sich bedrohlich. Um ihn herum entwickelt sich ein hektisches Treiben.
In aller Eile holen Vater und Sohn ihr Drachenpaar vom Himmel, ein Knäuel aus Drachen, Schnur und Spulen in den Händen. Der Regen wurde heftiger. In der Luft breitete sich jener frische Duft aus, den ich so sehr liebte.
Die Regentropfen prasselten immer heftiger auf ihn nieder, weckten Erinnerungen. Durchregnete Nächte, dicht zusammengekauert im Schlafsack liegend unter der sich mehr und mehr biegenden Zeltwand.
Von Zeit zu Zeit erleuchteten grelle Blitze den grauen Himmel. Dann wieder ein Krachen und Donnern. Wind und Regen konnte er mittlerweile hautnah spüren.
Im nächsten Augenblick war er auch schon im Freien. Um ihn herum war es leer geworden am Strand. Regentropfen flossen in kleinen Rinnsalen über seine Wangen abwärts. Für einen Moment schaute er in den Himmel, kniff die Augen zusammen, holte tief Luft, hielt den Atem an. Ein Gefühl fast grenzenloser Freiheit erfüllte ihn.
Völlig durchnässt, aber mit einem Gefühl der Zufriedenheit erreichte er einige Zeit später den Gasthof. Mitfühlendes Nicken, der Frau an der Rezeption beim Eintreten.
»Tant pis!«, entgegnete er voller Vorfreude auf den wärmenden Strahl der Dusche. Seiner nassen Kleidung hatte er sich schnell entledigt. Der heiße dampfende Wasserstrahl auf seine Haut. Wohlige Wärme erfüllte seinen Körper. Er schloss die Augen. Aufsteigende Nebelschwaden. Kaum merklich wurde der Vorhang zur Seite geschoben.
Erschöpft ließ er sich aufs Bett fallen. Er sah zur Decke, schloss die Augen. Er versuchte, sich zu erinnern. Es war lange her, dass er mit seinem Sohn so vertraut beieinander gewesen war. Erinnerungen an vergangene Urlaube kamen zurück. Stiegen auf.