Er sah den Pavillon erst verschwommen, dann immer klarer, so als sei es gestern gewesen. Schmerzhaftes Erinnern. Den die klarste Erinnerung konnte nie darüber hinwegtäuschen, vergangen war nicht mehr. Und doch, da war dieser Pavillon, unter dem sie so oft vor dem Regen Schutz gesucht hatten. Den Blick auf das durch Regen und Wind aufgewühlte Meer gerichtet. Da war die Luft, die er auf dem Bett die Augen immer noch geschlossen einatmete, für Augenblicke schwanger von zerstäubter Satzluft.
Gab es etwas Realeres, als das was sich der Geist zur Wirklichkeit ersann. Vergangenheit konnte Gegenwart werden, ganz und gar. Illusion, Trugbild, wen kümmerst, dachte er, wenn das eigene Empfinden so intensive Eindrücke erschuf. Oft die einzige aller Möglichkeiten, das Vergangene und Zürückersehnte wiedererstehen zu lassen.
Wie von Ferne sah er sich beobachtend, beide Arme fest um Brust und Bauch seines Sohnes geschlungen. Er sah die rechte Hand aufwärts wandernd, bis sie den Kopf erreicht hatte. Dort verweilte sie. Vorsichtig und mit Bedacht fuhr er über das kurz geschnittene, stoppelige Haar.
Nur nicht die Augen öffnen, dachte er kurz, bevor ganz verschmolz mit jenem seltenen Augenblick. Es war ihm, als würde er fallen. Tiefer und tiefer ins Land der Erinnerung, oder war es doch die Gegenwart. Eine Gegenwart, die so anders war, als die des geöffneten Blickes. Eine Gegenwart der inneren Einkehr. Konnte er erstmalig sehen und fühlen, was im direkten Erleben einfach nur an ihm vorübergezogen war?
War das Erinnern darum mehr als ein Zurückholen? Lag die Magie des Erinnerns gerade darin, die Vergangenheit erstmalig schöpferisch so entstehen zu lassen, dass sie mehr als bloße Gegenwart? Konnte es sein, dass dies genau die Momente im Leben waren, in denen man das Wesen allen Seins erhaschen konnte, für einen Bruchteil einer kaum messbaren Sekunde einen Hauch von Göttlichkeit spüren konnte.
Dieses Über-den-Kopf-Streichen wurde mit einem Mal zu mehr als zu einem Teil seiner Vergangenheit. Diese Geste, spürte er, war mehr als eine einmalige Geste der innigen Verbundenheit zwischen Vater und Sohn.
Sie war ihm seit Kindertagen noch all zu sehr vertraut. Ein wiederkehrendes Mosaiksteinchen seines Lebens, welches erst in der Gesamtschau zu dem wurde, was es war: ein grandioses und einzigartiges Bild, vollkommen und doch zugleich unvollendete, weil jedes Leben immer Fragment blieb.
Auf seinem Lebensbild sah er ganz deutlich seine längst verstorbene, in Kindertagen heiß geliebte und gleichzeitig auch immer wieder gehasste Tante Mathilde. Sie stand vor ihm. Er musste gerade mal fünf Jahre alt sein. In der Hand hielt sie eine Münze, einen Fünfziger. Für damalige Verhältnisse verdammt viel Geld. Auffordernd nickte sie. So als wisse er ohnehin, worum es ging. Und er wusste es. Ein Fünfziger und als Gegenleistung einmal über seinen frisch geschorenen Igelkopf streichen dürfen. Nur einmal. Er wusste längst, es würde nicht bei einem Mal bleiben. Und so verlockend das Angebot auch war – immerhin wusste er schon so viel, von einem Fünfziger konnte man sich glatt ein Eis mit drei Kugeln und eine Haube Sahne leisten – und dennoch, Tante Mathildes Nähe hatte etwas Unangenehmes. Seinen Kopf berührten sonst nur seine Eltern, ja und die Großeltern. Keinem anderen gestand er solche Nähe zu. Hilflos sah er zu seiner Mutter. Sie lächelte, was ihn nur noch irritierte. Dann nickte sie, als wolle sie damit andeuten, es ist nicht so schlimm. Oder gar: »Stell dich nicht so an, es ist doch schließlich deine Tante‹. Hieß verwandt zu sein, gleichzeitig sich nah zu sein? Jederzeit, ohne Frage. Es waren nur seine Haare, aber immerhin. Ein NEIN gestand er sich jedoch damals nicht ein. Es war das erste Mal, dass er seine Mutter für etwas hasste. Er sprach eine Woche nicht mit ihr. Er fühlte sich verraten. Sie, gerade sie, die sie ihm damals so nahe stand, wie niemand auf der Welt, sie hätte wissen müssen, welche unsägliche Pein diese Geste für ihn hatte.
Diese für mich höchst ambivalente Geste hat Jahrzehnte überdauert bis zu jenem Augenblick unter dem Pavillon. Dort wurde sie zum Ausdruck innigster Gefühle für seinen erstgeborenen Sohn.
Mit mir teilte er das Schicksal des Erstgeborenen. Fluch oder Segen? Ältester zu sein, Ältester in einer Geschwisterfolge von Dreien.Die Zahl drei war immer eine Garantie für viel Dynamik zwischen den Geschwistern. Bei wechselnden Koalitionen kam nie Langeweile auf.
Und doch war es sein Part, den Weg für meine Brüder zu bereiten. Ob er wollte oder nicht, für vieles hatte er erstmalig den Kopf hinzu halten. Mit dieser Rolle konnte er sich nie so recht anfreunden. Nicht selten erntete er sich dafür mal Ärger Vater mal Mutter ein. Die Bürde des Ältesten wurde ihm schnell zur Last, derer er sich bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit zu entledigen versuchte. Wie wünschte er sich damals, Einzelkind zu sein.
Als Kind und Jugendlicher verbrachte er seine Zeit, wann es nur ging, draußen. Oft galt er über Stunden als verschollen, bis er sich dann doch wieder zu Hause einfand, von nichts anderem betrieben als von Hunger oder Durst.
Ließ das Wetter ein Verweilen unter freiem Himmel nicht zu, so zog er sich gerne in seine Zimmer zurück. Las sich nach der Schule statt Hausaufgaben zu machen durch diverse Abenteuerromane. Er reiste bis zum Mittelpunkt der Erde, kämpfte für entrechtete Bauern, focht mit dem Degen den rechten Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit oder streifte als Trapper durch die endlosen kanadischen Wälder.
Hier wurden ihm für das spätere Leben wichtige Tugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit, Zielstrebigkeit, Hingabe und Ehrgeiz vermittelt.
So lernte er zunächst gedanklich, sich den widrigsten Situationen zu stellen und besonnen, zielstrebig und ohne große Umschweife zu handeln. Es fällt ihm bis heute schwer, andere agieren zu lassen. Wenig geübt, Vortritt zu gewähren, schreitet er sogleich zur Tat. Überlegt nicht lange, taktiert schon gar nicht. Manches Mal im Leben hat ihm dies den Vorwurf von Arroganz eingebracht.
Zurückhaltung gar war ihm lange fremd.
Mühsam lernte er sich zurückzunehmen, innezuhalten, um abwartend die Kostbarkeit des geschenkten Augenblicks zu erleben.
Gleichzeitig war ich immer schon ein guter Zuhörer. Bei den allseits geschätzten wie liebevoll vorbereiteten Familienfeiern – zwischen gedecktem Apfelkuchen und Käsehäppchen mit Weintrauen – konnte er sehr wohl gedankenverloren für Stunden zum Zuhörer werden.
Wie gebannt hing er besonders gerne an den Lippen meines Onkels Bruno. In den wenigen Esspausen, er schaufelte, anders kann man es nicht bezeichnen, unbändige Mengen Kuchen, Salat, Wurst und Käse in sich hinein, wobei er stets dem Motto folgte ›In der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot.‹, dann also, wenn er gerade mal nicht kaute, ergoss sich sein nicht enden wollender Redeschwall über uns.
Tante Frida zwinkerte ihm meist verständnisvoll zu. Beim Abwasch erklärte sie einmal: ›Weißt du, mein Bruno war einfach zu lange in Sibirien.‹ Er hatte noch nie davon gehört. Sibirien, es klang irgendwie geheimnisvoll. Und dies sollte es für ihn lange Jahre bleiben. ›Dort hat er meist nur mit sich reden können‹, fuhr sie fort. ›Als er nach Jahren endlich zurückkehrte, völlig abgemagert war der Gute, du hättest ihn nicht wieder erkannt, stell dir vor, da hat er zwei Tage und Nächte ohne Unterbrechung erzählt. Nur einige Pausen zum Essen und aufs Plumpsklo hat er sich gegönnt. Wen wundert, dass er heute noch so ist.‹
Onkel Bruno war nicht nur jemand, der für drei aß, was ihm auf Dauer den Gang zum Schneider nicht ersparte, der immer wieder neu Maß nehmen musste. Beim Essen trug er stets eine übergroße Serviette, wie ein Lätzchen bei Kleinkindern über seinem übergroßen Bauch, der sich stolz gen Himmel wölbte. Sie hing an einer um den Hals hängenden Silberkette mit zwei Hosenträgeverschlüssen zu beiden Enden. Beim Autofahren trug er ebenfalls Latz. Ich nie wieder dergleichen gesehen. Dieser Latz hatte keine andere Bedeutung, als den gerade wieder maßgeschneiderten Anzug vor dem Abwetzen zu bewahren. Zu sehr rieb sich das Lenkrad in jeder Kurve an seinem von kostbarem Tuch umhüllten Bauch. Ein wunder, dass er bei der Leibesfülle überhaupt frei lenken konnte. Anfangs hatte er neben ihm sitzend Angst, Onkel Bruno könnte mitten in einer Lenkbewegung am eigenen Bauch stecken bleiben und er würde unweigerlich mit ihm ins Unglück rasen. Es kam nie dazu.
Onkel Bruno hatte zudem die seltene Gabe, Witze in den verschiedensten Dialekten zu erzählen. Er beneidete ihn für diese Begabung. Er konnte sich selbst die besten Witze nur schlecht merken und versaute jede Pointe. Vor lauter Lachen, mit gekrümmtem Bauch, der schon schmerzte, saß er da, bewegungslos, mit weit aufgerissenem Mund und hing an seinen Lippen.