Hors Saison II,V

Hors Saison Titelbild

Mitten in seinen Gedanken hielt er inne. Er öffnete die Augen.
Von draußen fiel die Sonne in sein Zimmer. Der Regen musste aufgehört haben, dachte er, bevor er wieder zurück in einen Dämmerschlaf fiel.

»Papa, lass uns gehen. Es hat aufgehört, zu regnen.«
Nils ergriff meine Hand, und ehe ich es mitbekam, hatte er mich schon hinter sich her nach draußen gezerrt. Ein böiger Wind schlug uns entgegen.
»Na, wie wär’s?«, fragte ich Nils.
Erstaunt sah er mich an.
»Was meinst du?«, entgegnete er.
»Wollen wir den Wind nicht noch eine Weile ausnutzen?«
Ein Strahlen erleuchte sein Gesicht. Seine Augen leuchteten auf. Was für eine Frage. Natürlich hatte er noch Lust.
Nun sollte das Drachenpaar den Himmel erobern. Es dauerte nicht lange, und schon setzte das in Neon gekleidete Paar seinen Tanz am Himmel fort.
»Komm«, forderte ich Nils auf.
»Stell dich vor mich hin.“
Vorsichtig übergab ich ihm die beiden Spulen, um seine Hände dann wieder schnell mit den meinen zu umschließen. Eng umschlungen standen wir da.
Die hinter den Wolken untergehende Sonne kündigte die nahende Dämmerung an. Wir nahmen kaum wahr, als der Regen wieder leicht einsetzte. Nichts könnte uns davon abhalten, diesen besonderen Tag bis zu seinen letzten Lichtstrahlen auszukosten.
Unvergessliche Augenblicke vergingen. Raum und Zeit schienen stehen zu bleiben. Unwillkürlich dachte ich an eine kürzlich gelesene Zeile eines Gedichts: ›… wenn sich Raum und Zeit wie durch ein Brennglas zu einem einzigartigen Augenblick verdichten …‹
Ja, es war eine berauschende Leichtigkeit, die uns beide ergriffen hat. Es ist, als würden wir davonschweben, hinauf in den Abendhimmel, hinauf über ihn und die gefärbten Wolken hinaus, der untergehenden Sonne hinterher, hinauf in die grenzenlose Weite. Ikarus und Daedalus gleich.

In der Nacht schlief er sehr unruhig, träumte, erwachte, lag wach, dachte über den vergangenen Tag nach. Lange Zeit versuchte er vergeblich, wieder einzuschlafen. Immer wieder hörte er den hohen Klang der nahe gelegenen Turmuhr zur vollen Stunde. Erst gegen Morgen schlief er nochmals in tief ein. Er träumte.

Ein heftiges Gewitter weckte ihn. Klappern der Fensterläden. Eine frische Brise drang durch den Fensterspalt. Endlich. Die Hitze der letzten Tage stand immer noch im Raum. Zum Durchschneiden und Abtransport bereit.
Im Halbschlaf wälzte er sich aus dem Bett, ging ans Fenster. Dichte Regenwolken. Blitze.
Wenig später kräftiges Donnern vom Meer her. Traumtrunken stand er da, konnte sich selbst nicht finden im Hier und Jetzt. Wieder ein Blitz. Er schreckte auf. Jetzt erst wurde er gewahr, wo er sich befand.

Bilder aus seiner Kindheit. Seine große Angst vor Gewittern, die der Vater ihm eines Tages wie mit Zauberhand nahm. Beschwichtigend hatte er auf ihn eingeredet.
›Hannes, weißt du, Gott macht gerade mal wieder Bilder fürs Archiv.‹ Blitz und noch eins. Das schien einleuchtend.
›Bitte lächeln, Hannes.‹
›Aber warum lächeln?‹, hatte er darauf entgegnet.
›Damit Gott sieht, dass du bereit bist für die nächste Aufnahme. Na ja, und natürlich, damit du daran denkst, in die Kamera zu gucken.‹
›In die Kamera, in welche? ‹
Schweigen.
Diese Frage blieb unbeantwortet.
Eine Zeitlang war er dann aller Angst zum Trotz bei jedem Vorboten eines Gewitters auf den Hof geeilt. Mit breitem Grinsen stand er da und schaute in den Himmel, bereit für die nächste Aufnahme. Und noch eine. Er blieb stets unbemerkt. Durchnässt vom Regen schlich er sich zurück in sein warmes Bett. Gott konnte zufrieden sein. Seinen Beitrag hatte er mal wieder geleistet. Wenn das Gewitter noch anhielt, konnte es nur an den anderen Bewohner des kleinen Ortes liegen. Beruhigt und zufrieden schlief sogleich ein.
Komisch, ihm war eines nie aufgefallen. Nie waren seine Eltern mit ihm nach draußen geeilt. Der Gedanke daran ließ ihn nun schmunzeln.

Manchmal wünschte er sich die Unbefangenheit jener Tage zurück. An die Stelle kindlicher Vorstellungskraft und Naivität waren Nüchternheit und Rationalität getreten. Da blieb keine Gelegenheit zum Träumen. Nur selten nahm er sich diese.
Ausgestreckt auf einer frischgemähten Wiese liegend, in den Himmel blickend. Als Kind hatte er Stunden so verbracht. Hatte gehofft, Gott könnte für einen Augenblick den Vorhang des Himmels beiseiteschieben und auf ihn herabschauen.
›Hier bin ich‹, hörte er sich sagen und legte das breiteste Lächeln auf, welches ihm möglich war. Erwartungsvoll dem Blau des Himmels entgegen.
›Gott hat sich mir gezeigt.‹
Dieser Satz hatte sich ihm eingeprägt. Er wusste nicht mehr, wo er ihn zum ersten Mal gehört hatte, aber er hatte es ihm angetan. Wollte er doch der Erste aus der Familie sein, der dies von sich behaupten konnte.
Der Umstand, dass sein Ausschauhalten keinen Erfolg hatte, kümmerte ihn wenig. Im Gegenteil, selig mit sich und der Welt kehrte er zurück nach Hause. Sinnlose Zeitvergeudung würde heute manch einer sagen und fragen:
‹Hast du Langeweile? Willst du nicht mal etwas Vernünftiges machen?›
Bezeichnend, dass ihn heute sehr häufig mitten in der Arbeit eine Art Fluchtinstinkt ereilte, wenn er aus dem Fenster das kräftige Blau des Himmels erblickte. Wenn es der Augenblick zuließ, verließ er manchmal seinen Schreibtisch, und im Garten auf der Wiese liegend in den Himmel zu starren.