Der erneute Donner riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah auf die Kirchturmuhr. Die Leuchtziffern zeigten halb acht. Für eine Weile wollte es sich nochmals hinlegen. Wollte sich noch etwas wach träumen.
Er zog es jedoch vor im Bistro sein Petit-déjeuner einzunehmen. Er freute sich auf einen starken Kaffee und einen Croissant. Irgendwie war ihm heute Morgen der Hunger abhandengekommen. Eine Art Vorahnung des Körpers auf das, was sich noch ereignen könnte.
Madame Molino von Rezeption nickte verständnisvoll, als er den Gasthof wortkarg und verstreut verlies, nichts ahnend, was diesen sonst so um Etikette besorgten Gast in Unruhe versetzt hatte. Wäre er deutlich jüngeren Alters gewesen, hätte dieser Umstand ihre Phantasie eindeutig beflügelt. So sah sie ihm etwas ratlos hinterher.
Zielstrebig wandte er sich nach rechts. Er atmete tief ein. Reste des Morgendunstes, die der aufgehende Feuerball noch nicht gänzlich vertrieben hatte, lagen in der Luft. Er liebte diesen Morgenduft. Feucht und leicht modrig, erdig. Zug um Zug sog er tief inhalierend in sich ein. Leicht tänzelnd waren seine Schritte.
Der kleine Supermarché hatte bereits geöffnet. Ein älterer Herr verließ den Laden mit einem Baguette. Der benachbarte Fischladen hatte zwar noch geschlossen. Monsieur Pensac war aber schon eifrig bei der Arbeit. Täglich bereitete er in der übergroßen Pfanne die Paella für den Tag vor. Er war gerade dabei Zwiebeln zu schmoren. Sein Nachbar, Monsieur Pensol hatte seinen Klapptisch vor seinem kleinen Lädchen aufgestellt und zwei Klappstühle dazu bestellt. Wenige Minuten vorher war er bereits im Supermarché gewesen, hatte dort für das morgendliche Ritual Baguette, Leberpastete und eine Flasche Rotwein besorgt. Gleich würden Monsieur Pensac und Monsieur Pensol Platz nehmen und auf ihre all morgendlich wiederkehrende Weise den Tag begrüßen.
Innerlich musste er über diese beiden älteren Herren schmunzeln, die allen gesellschaftlichen Konventionen zum Trotz, mit großer Freude ihr Morgenritual vollzogen. Manchmal waren sie so sehr in ihren philosophischen Erörterungen verstrickt, dass sie die Zeit ganz zu vergessen schienen. Nicht selten schlug die Kirchturmuhr bereits Mittag und erinnerte auf diese Weise an noch zu vollendendes Tagewerk.
Einige Straßenecken weiter hatte ein Bistro bereits geöffnet. Chez Jacques stand kaum noch lesbar auf dem Schild über dem Eingang. Ein älterer Herr war dabei, die Sitzkissen zu verteilen. Schild und Besitzer schienen in die Jahre gekommen zu sein.
Er bestellte und setzte sich. Den imaginären Takt seiner Gedanken folgend bewegte sich sein Oberkörper. Der Tag hatte trotz unruhiger Nacht irgendwie verheißungsvoll angefangen.
Kaum zu sagen, was ihm durch den Kopf schoss. Mehr gedankenleeres Denken, ohne jede Kontur. Mehr Rauschen, mehr Klang als Bild. Unwillkürlich schloss er die Augen. Erspürte die angenehme Wärme der aufgehenden Sonne. Minuten vergingen.
Brutal wurde er aus dem Nichts gerissen. Klirrendes Geschirr. Er öffnete die Augen. Das Lächeln der Bedienung kam so unvermittelt, dass er erschrak. Er brauchte Sekundenbruchteile, um sich im Jetzt wieder zurechtzufinden. Immer noch dieses Lächeln. Er war außerstande dieses durch eine andere Regung als ein verhaltenes Nicken zu erwidern.
Für Sekunden schloss er nochmals die Augen. Wollte wieder ins Land der Gedankenlosigkeit eintauchen. Konzentriertes Bemühen. Vergeblich. Enttäuscht öffnete er die Augen, sah vor sich auf dem kleinen Tischchen seinen Kaffee und den Croissant auf einer Untertasse.
Wenige Minuten später zahlte er und war schon wieder auf den Beinen. Ziellos. Lies sich treiben. Auf der Suche nach der verlorenen Stimmung. Kehrte zurück zum Gasthaus. Von dort aus versuchte er, den verlorenen Faden wieder aufzunehmen.
Wie einst seine Großmutter, die auf dem Weg in die Küche schon vergessen hatte, was sie dazu bewegt hatte, ihren Tagessessel zu verlassen. Wieder und wieder kehrte sie in den Wohnraum zurück, stets neu bedacht, ihre Gedanken zu sammeln. Solange bis sie sich enttäuscht, kopfschüttelnd und leise fluchend in ihren Sessel fallen lies. Dieses Ritual wiederholt sich wenig später und vermochte die Eintönigkeit ihres Alleinsein etwas durchbrechen.
Chez Jacques in Sichtweite brach er die Suche jedoch ab. Er überquerte die Kreuzung und schlug sich durch kleine Gassen zur nahe gelegenen Strandpromenade durch.
Das Meer hatte sich merklich zurückgezogen. Vorsorglich zog er Schuhe und Socken aus, krempelte die Hosenbeine hoch und folgte einem kleinen Rinnsal hin zur Brandung. Das Wasser hatte eine angenehme Temperatur. Er liebte es, durch die vielen kleine Pfützen zu waten, die das Meer zurückließ, wenn es sich auf bestimmte Zeit vom Land zurückzog.
So hüfte er von einem Fußbad zum anderen. Verweilte, wenn ihm die Temperatur als besonders angenehm erschien. Von Ferne betrachtet musste seine Hüpferei ein eigentümliches Schauspiel abgeben. Sein Blick war weder nach unten gerichtet – wie bei den Muschel suchenden Strandläufern, noch hatte er den obligatorischen Eimer mit dem kleinen Klappspaten der Angler dabei.
An der Wasserkante blieb er kurz stehen. Überlegte. Wohin sich wenden? Richtung Norden oder Süden. Er zog den Süden vor. In der Ferne konnte er die Silhouette der Pyrenäen erahnen. Sie waren nur selten zu sehen. Meist, wenn das Wetter umschlug.
Das Gewitter der Nacht war verflogen. Der Himmel war nun blau. Wolkenlos. Er versuchte zu ermessen, wie viele Tagesmärsche er bis zur spanischen Grenze unterwegs wäre. Vor seinem inneren Auge schlug er die Landkarte auf, besah die geographischen Verhältnisse und begann Kilometer zu zählen, brach dann jedoch wieder ab. In Gedanken überquerte er die Pyrenäen landwärts.
Der Spaziergang am Strand entlang hatte ihn hungrig gemacht. Vor seiner Rückkehr in den Gasthof zur wohlverdienten Mittagsruhe beschloss er, eben in der Brasserie an der Strandpromenade eine Kleinigkeit zu essen. Sie öffnete stets um die Mittagszeit und hat kulinarische Köstlichkeiten aus der Region.
Der Blick auf die Tageskarte ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die Wahl fiel ihm nicht schwer. Er entschied sich für eine Soupe à le Garbure, ein Kohleintopf vor allem aus Grünkohl, mit Wachsbohnen, weißen Bohnen und Kartoffeln. Das Ganze durch Gänsefleisch ergänzt und mit feinen Kräutern verfeinert. Serviert wurde ihm diese Suppe – wie Béarner es lieben – über einige Schwarzbrotscheiben gegossen. Dazu ein leichter Landwein. Zum Dessert bestellte einen Espresso und Pastis landais, kleines Gebäck mit Armagnac und Orangenblüten.
Als er aus dem Halbschatten der Brasserie heraustritt Stand die Sonne im Zenit hoch über ihm. Es war an der Zeit, eine ausgiebige Mittagspause mit Lesen und einem kleinen Nickerchen einzulegen. Am Nachmittag will er dann den Tabakladen erneut aufsuchen.
Immer noch von einer inneren Anspannung erfasst, ließ er sich auf sein Bett fallen. Beim Einatmen hatte er den vertrauten Duft in der Nase. Er schloss die Augen. Wenige Augenblicke später fiel er in einen tiefen Schlaf, ohne auch nur eine Seite aus seinem Buch gelesen zu haben.
Gegen 16.00 Uhr macht er sich wieder auf den Weg. An der Rezeption fragt er Madame Molino, ob Post für ihn eingetroffen sei. Sie reicht ihm eine Postkarte. Sie zeigt die Panoramaansicht eines Bergmassivs. Er dreht die Postkarte um und liest:
Hallo mein alter Herr,
schade, dass du mich auf der Tour nicht begleitest. Ich denke, du hättest sie trotz deines Alters doch noch geschafft. Die Vorbereitungen für den großen Aufstieg laufen auf Hochtouren. Der Bergführer ist glaube ich aufgeregter als ich selbst. Denk an mich. Ich hoffe, du genießt die Zeit in deinem geliebten Frankreich.
Es umarmt die herzlich dein Sohn
Nils
Er reichte Madme Molino die Postkarte zur Verwahrung zurück und verließ den Gasthof. Der Himmel war bedeckt. Schwüle Treibhausluft empfing ihn.