Hors Saison II,VII

Hors Saison Titelbild

›Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wie lange ich die Stille in mir noch aushalten würde. Schreie, die sich in der Kehle bilden, bleiben tonlos. Werden verschluckt von den Gedanken. In Gedanken tun sich Abgründe auf.‹
Dies waren seine Gedanken, als er sich ziellos durch die Gassen schlendernd wieder vor dem Tabakladen wiederfand.
Unschlüssig einzutreten, denn dafür gab nicht wirklich einen plausiblen Grund, schritt er voran. Im gleichen Moment haderte er mit seiner Unentschlossenheit.
Es war an der Zeit, sich endlich dem zu stellen, was ihn seit geraumer Zeit in den Bann zog. Seine Flucht, denn also solche konnte man seinen Aufbruch getrost bezeichnen, hatte zwar Abstand zwischen ihm und der Welt, in der er seinen Alltag verbrachte, gebracht, gleichwohl konnte er sich selbst nicht aus dem Weg gehen. Im Gegenteil, je weiter er auf Abstand von der Welt ging, um so mehr wurde er von seinem Inneren erfasst. Schonungslos.
Wie um dem nicht weiter ausgeliefert zu sein, drehte es sich um und stand schon wenige Augenblicke im Tabakladen.
Die junge Frau begrüßte ihn freundlich.
»Monsieur kann ich ihnen helfen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie unter die Ladentheke und holte etwas hervor.
»Hier Monsieur. Sie waren gestern so schnell weg, dass ich Ihnen nicht mehr zeigen konnte, was wir aus alten Beständen doch noch haben. Meine Großmutter konnte sich nicht von alten Dingen trennen. Selbst dann nicht, wenn kein Kunde mehr danach gefragt hat. So lagen die Ladenhüter … so sagt man doch in Ihrer Sprache sagt, nicht wahr?«
Die junge Frau unterbrach sich selbst und sah ihn fragend an. Er nickte kurz.
»Auf jeden Fall hat meine Großmutter diese Dinge sorgsam im hinteren Bereich dieser Ladentheke versteckt, damit keiner von uns, weder meine Mutter noch ich sie je finden und entsorgen konnten. Man hätte sie ganz und gar vergessen können, wenn, ja wenn nicht Kunde wie Sie nochmals nach ihnen fragen würde.«
Immer noch brachte er kein Wort heraus, konnte nur freundlich nicken, griff in seine Gesäßtasche, holte das Portemonnaie hervor und zahlte.
Als er das Rückgeld eingesteckt hatte, den kleinen Plastikbeutel mit den erstanden Dingen entgegengenommen hatte und schon im Begriff war den Tabakladen wieder zu verlassen, drehte er sich nochmals um.
»Entschuldigen Sie, Ihre Großmutter lebt noch?«
»Aber sicher. Sie ich noch gar nicht so alt. Sie und meine Mutter sind sehr jung Mütter geworden. Andere haben in meinem Alter gerade Mütter, die so alt wie meine Großmutter sind.«
»… nicht ganz«, korrigierte sie sich nach einer Weile.
»Sie haben sie gestern knapp verpasst. Soll ich ihr etwas ausrichten? Wie war noch ihr Name?«
Er schaute sie etwas verwundert an. So erging es ihm häufig, wenn ihn jemand mit einer Reihe von Fragen konfrontiert, er noch dabei, die erste zu beantworten, dann aber schon die nächste, oder gar übernächste folgte.
»Wie bitte?!«
Ein Moment des Schweigens folgte, während die junge Frau unschlüssig darüber, ob sie sich unverständlich ausgedrückt hatte, auf eine Antwort, das heißt zwei Antworten wartete.
»Ach so … ja ich heiße Hannes. Ich kenne Ihre Großmutter von früher. Meine Familie hat hier früher schon gerne Urlaub gemacht.«
»Annes!? Was für ein ukliger Namen.«
»Nun ja, eigentlich ›Johannes‹, aber meine Eltern haben schon früh Hannes daraus gemacht. In der Schule hieß ich einfach nur Jo.«
Er wunderte sich selbst über die Vertrautheit, die das Gespräch genommen hatte.
»Wie ist der Name Ihrer Großmutter nochmals? Anne?«
»Ja, genau. Sie habe ein gutes Gedächtnis. Waren Sie, entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage, waren Sie mit meiner Großmutter befreundet?«
»Nicht direkt … und doch irgendwie schon. Auf jeden Fall hat sie mir damals ganz schön den Kopf verdreht. Im Grunde war es nur ein Abend, mehr nicht … und außer einem flüchtigen Kuss ist auch nichts weiter passiert.«
Er spürte, wie er verlegen wurde.
»Dann sind sie also der junge Mann, von dem meine Großmutter mir einmal erzählt hat. Ich war gerade unglücklich verliebt. Eine Urlaubsbekanntschaft. Meine Vater hat mir immer davon abgeraten. ›Am Ende sind sie so schnell weg, wie sie gekommen sind, und du heulst dir wochenlang die Augen aus dem Kopf.‹ Im Grunde hatte er recht.«
Eine Pause folgte, in der sich beide zu erinnern versuchten.
»Wenn ich mich an die Worte meiner Großmutter erinnere, dann waren sie ein ganz wilder Tänzer. Es war doch die Zeit, in der man mehr mit dem Kopf gewackelt hat, als mit einem anderen Körperteil.«
Er nickte.
»Ja, so war es.«
»Wissen Sie was?! Meine Großmutter kommt immer noch täglich in den Laden und besucht mich. Sie hat immer noch den Eindruck, sie müsste nach dem Rechten schauen. Dabei steht sie schon lange nicht mehr hinter der Theke. Nachdem mein Großvater früh gestorben ist, hat sie es hier nicht mehr ausgehalten. Sie hat sich in ihr kleines Haus am Rande des Ortes zurückgezogen. Seitdem malt und handwerkt sie.«
»Interessant. Wann wird sie heute kommen?«
»Nun, das kann man nie so genau sagen. Sie kommt meist dann, wenn ihr danach ist.«
»Gut. Ich werde dort in dem Bistro auf sie warten. Ich habe Zeit und kann mir ja die Zeit mit einigen Notizen zu meinem neuen Roman vertreiben.«
Dabei zeigte er auf den, auf der anderen Straßenseite gegenüberliegenden, Bistro.
»Ich weiß. Dort haben sie gestern auch schon einmal gesessen und offensichtlich auf etwas gewartet.«
Er spürte, wie er knallrot anlief, drehte sich unvermittelt um und verließ ein zweites Mal fluchtartig den Tabakladen.
›Alte Liebe rostet nicht‹, dachte die junge Frau, während sie amüsiert dem Mann auf der Flucht nachsah. Sie war gespannt auf das, was noch kommen würde. Und, wenn es sein musste, war sie bereit, das Feuerchen etwas zu schüren. Sie war ohnehin der Meinung, ihre Großmutter täte ein bisschen Abwechslung ganz gut. Seit dem Tod ihres Großvaters hatte sie sich sehr zurückgezogen.

Er nahm am gleichen Tisch wie am Vortag Platz, bestellte aber keinen Pastis, sondern einen Kaffee, schwarz ohne alles. Er wollte nüchtern bleiben.
Als er zum Tabakladen hinüberschaute, sah er die junge Frau winken. Sie Stand vor dem Laden und unterhielt sich mit einer Kundin. Daraufhin drehte diese sich um und winkte ebenfalls. Er im Begriff zum Thema des Tages zu werden.