Hors Saison II,VIII

Hors Saison Titelbild

Als die Turmuhr zu Mittag läutete, saß er immer noch da. In den letzten Stunden hat er fast unablässig auf die andere Straßenseite gestarrt. Die von ihm ersehnte Person war jedoch nicht gekommen. Er nahm sich vor, noch eine Stunde zu warten und dann eine Mittagspause einzulegen.
Aufgeschlagen lag eines der Notizhefte vor ihm. Er hatte gehofft, er könne sich mit dem Schreiben etwas die Zeit vertreiben.
Noch hatte sich ihm keine gedankliche Tür geöffnet. In seiner Anfangszeit als Schriftsteller hatte ihn das regelmäßig in einen Zustand stetig steigender Frustration katapultiert. Mühsam hatte er mit den Jahren lernen müssen, diesem Gefühl nicht weiter nachzugehen. Die Aussicht, irgendwann würde sich eine Tür öffnen, ließ in mittlerweile Ruhe bewahren. Mit seinen Gedanken einen neuen Raum zu treten, ließ eine Vorfreude in ihm aufkommen, eine Art Spannung, die seine Wahrnehmung und letztlich auch seine Gedanken schärfte.
Das Schreiben, so wusste er mittlerweile, war für ihn nicht einfach ein kreativer Akt, kein Formulieren von Gedanken, die man sich lange zurechtgelegt hatte und irgendwann nur noch zu Papier bringen musste. Bei dem, was er schrieb, hatte er nur selten ein Konzept, einen Grundgedanken, eine Gesamtidee für das Werk, an dem er gerade arbeitete.
›Es fließt etwas aus mir heraus‹, pflegte er andere zu antworten, die neugierig nach dem Entstehen eines Werkes fragten. Folgerichtig hatte er aufgehört, sich Gedanken um das jeweils nächste Kapitel zu machen. Er würde kommen, sich ereignen. Schreibpausen, wie andere sie nannten, konnte er gelassen annehmen.
Im Grunde war das Schreiben für ihn ein Prozess, ein Weg, den er beschritt. Dieser Weg war dem Leben an sich gar nicht so unähnlich.
Im Grunde kam das Leben auf einen zu. Es ereignete sich. Dabei führte es unsere detaillierten Planungen für einen konkreten Tag oder das Leben im Allgemeinen, allzu oft ad absurdum.
Er hatte lange gebraucht, um für sich an diesen Punkt zu kommen. Seither konnte er die Welt um ihn herum mit anderen Augen sehen, sie anders wahrnehmen.
Manchmal fühlte er sich vorbeifliegenden Vögeln sehr nahe. Vor allem den Seglern unter ihnen, die sich die Thermik ausnutzend fast ohne Aufwand, so schien es jedenfalls, durch die Lüfte fortbewegten.
Konnte unser Sichbewegen etwas Anderes sein? Bestand die Lebenskunst nicht vor allem darin, thermische Strömungen des Augenblicks zu nutzen? Weil wir aber unserem permanenten Drang, die Welt um uns zu ordnen, das Leben zu organisieren, nachgingen, wurden wir letztlich am Boden gehalten.
Die Thermik des Lebens war, was sie war. Sie kam, wann sie kam, und ließ sich weder herbeidenken, noch konnte sie herbeigeführt werden. Sie kam, oder blieb aus. Und wenn sie kam, konnte man sie für sich nutzen.
Wie oft hatte er sich in den letzten Jahren gefragt, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er die Welt um ihn herum als thermisches Gebilde wahrgenommen hätte? Wo hätte sie ihn hingetragen.
›Getragen‹, das war das richtige Wort. Das Leben trug einen. Man konnte sich von ihm tragen lassen.
Dies lief dem Denken eines Menschen zuwider, der bestimmen, der Herr über sein Leben sein und bleiben wollte und für den der eigene freie Wille über allem stand.
War er damit ein willenlos getriebener Zeitgenosse geworden?
›Ganz und gar nicht‹, dachte er.
›Wartet, nehmt mich mit!‹, rief er manchmal vorbeisegelnden Vögeln zu.
Am Strand spazierengehend, oder auf dem Kamm einer Düne sitzen, konnte er in diesen Tagen lange den Möwen zuschauen und war immer neu fasziniert von ihrer Flug-, oder sollte er sagen Lebenskunst.
Wenn er bisweilen versuchte, andere für seine gewonnene Sicht zu gewinnen, warfen im manche vor, er entlarve sich selbst mit seinem Denken. Seine zutiefst passive Lebenshaltung sei abzulehnen. Es gelte, das eigene Leben aktiv zu gestalten. Jede Form der Passivität laufe der eigenen Gestaltungsfreiheit zuwider. Sich über die Dinge zu erheben, sei Ausdruck von Macht. Menschsein hieße, trotz wohlfeile Beteuerungen vor allem aus dem Lager der Religionen, zu herrschen, Macht zu gewinnen über das eigene Leben, wie über das anderer. Macht, die in der Kontrolle münde, sei vollgerichtet – alles andere nichts Anderes als Sozialromantik.
›Du gibst dich der Macht des Schicksals hin‹, hatte ein Freund ihm noch kürzlich entgegengehalten.
›Ganz und gar nicht‹, hatte er diesem gekontert. ›Es ist keine fremde oder höhere Macht, die mein Leben ordnet. Grundsätzlich bin ich frei, die Thermik meines Lebens zu nutzen. Ich kann auch am Boden bleiben. Das Eine wie das Andere ist nicht an sich gut oder schlecht. Frei bin ich, zu entscheiden. Dies ist allein an mir, es kann mir niemand abnehmen, so sehr ich auch meine Lebensumstände dafür reklamieren möchte. Der Moment dieser Entscheidung ist magisch und tragisch zugleich. Er kann dem Glück wie dem Unglück nahebringen. Wenn du Vögeln beim Fliegen zuschaust, wirst du selten einen Artgenossen finden, den die Thermik zu Boden stürzen lässt. Kein Vogel bringt sich durch das Fliegen in Gefahr. Mit Ausnahme der Hindernisse, die wir Menschen ihnen in die Quere bringen. Die Thermik reicht bisweilen nicht, dem drehenden Rotorblatt eines Windparkes auszuweichen. Die Thermik müssen wir also nicht fürchten. Gleichwohl bringt sie uns, wie jeden Vogel, an Orte, die so gar nicht lebenserbauend sind.‹

Er war so tief in seinen Gedanken versunken, dass er das Mittagsgeläut überhörte.
Wie gebannt sah er zwar immer noch auf die gegenüberliegende Seite der Straße, nahm im Grunde aber nicht mehr so recht war, was sich ereignete. Zu sehr war er in die Welt seiner Gedanken aufgestiegen.
Die Thermik seiner Gedanken hatte ihn wieder mal erfasst.
So griff er zum Stift und begann zu schreiben.

Wenn Worte im Kopf
bevor sich ihn verlassen
bereits ihre Bedeutung haben
Vergangenheit geworden sind
ist vielleicht besser zu schweigen
›Worte‹, so sagte er sich, ›sind auch thermische Gebilde.‹ Reden oder Schweigen hat, so wurde ihm mit einem Mal klar, mehr mit Thermik zu tun. Und wie lange hatte auch er den Anspruch hochgehalten, das Reden solle von Klarheit, Offenheit und Authentizität des Redenden erfüllt sein.
Wie oft hatte er nicht nur die Begrenztheit von Sprache, Dinge in Worte zu kleiden, gespürt. Es war noch etwas Anderes, das ihm nun klar vor Augen stand: Wenn die Thermik zweier Menschen nicht zueinander findet, konnte das Sprachereignis keine Dynamik aufbauen. Man hatte sich etwas gesagt, von dem jeder auch sagen konnte ›Jetzt weist du es.‹ Und doch war da nichts von diesem Verstehen, diesem gedanklichen Einswerden mit einem Anderen, das bisweilen höchstes Glück bedeuten konnte.

Was er gedankenverloren wahrnahm, glich einem vorbeihuschenden Schatten. ›Da war sie‹, gab im sein Inneres zu verstehen. Sogleich bezahlte er und verließ mit freudiger Erwartung das Bistro und eilte über die Straße dem Tabakladen entgegen.