Noch bevor er den Tabakladen betreten konnte, kam ihm Anne entgegen.
»Komm mein in die Jahre gekommener Don Juan!«
Hannes wusste nicht, wie im geschah. Er war überwältigt von ihrer Direktheit. Ein Augenblick blieb er zurück, während Anne voranschritt. Sie sah sich nicht um, wartete nicht, dass er ihr folgte, so als sei sie sich sicher, dass er nur dies tun könnte.
So war es dann auch. Hannes beschleunigte seine Schritte, bis er mit ihr aufgeschlossen hatte.
»So viele Jahre habe ich auf dich gewartet. Du bist der fehlende Stein im Mosaik meines Lebens.«
Ihre Worte trafen ihn abermals. Was war das für eine Frau? Noch nie war ihm ein Mensch begegnet, der gleich so unverblümt zu dem kam, was ihn bewegte.
Etwas schien von ihm Besitz zu nehmen. Es waren nicht nur ihre Worte, die ihn ganz tief im Inneren berührten, Erinnerungen an längst vergangenen Tage aufleben ließen. Da war ihre äußere Gestalt, die ob ihres Alters immer noch etwas Zartes, geradezu Zerbrechliches hatte.
Anne trug ein sommerliches beigefarbenes Kleid aus einem dünnen luftigen Leinenstoff, unter dem sich ihr Körper mit all seinen Konturen abzeichnete. Ihr kräftiges schwarzes Haar war durchzogen von grauen Strähnen und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Wollen wir einen Spaziergang am Strand entlang machen?«
Hannes, nicht fähig auch nur ein Wort zu sagen, nickte mit dem Kopf. Anne konnte dies nicht sehen, nahm den Umstand, dass er ihr weiter folgte, aber als eine deutliche Zustimmung wahr.
Eine Weile gingen sie schweigend an der Wasserkante des Meeres entlang. Beide hatten sich ihres Schuhwerks entledigt und wateten durch das seichte Wasser der Ebbe.
»Wie kommt es, dass du nach all den Jahren wieder hierher gekommen bist? Was hat dich gerade hierhin geführt?«
Hannes überlegte. Er entschied sich, genauso offen zu sein. Es gab keinen Grund, etwas zurückzuhalten.
»Ich habe mir nach der Diagnose ›Krebs‹ eine Auszeit genommen. Bin sozusagen von zu Hause geflüchtet, habe eine ahnungslose und wahrscheinlich verstörte Ehefrau, möglicherweise auch fragende Kinder, zurückgelassen und bin nun hier, um mich auf mich, mein Leben zu besinnen.«
Anne blieb stehen. Hannes tat es ihr gleich. Beide sahen sich an. In ihrem Gesichtsausdruck lagen Neugier und Zuneigung, eine Mischung die das Gegenüber animiert fortzufahren.
»Wie ernst ist es?«
»Sehr!«
Hannes machte eine Pause, so als müsse er sich erneut klar über die Worte seines Arztes werden. Aber es war wohl eher der Anflug eines Zögerns, war es doch das erste Mal, dass er darüber zu sprechen begann.
»Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich in den letzten Tagen kaum damit beschäftigt. Ich habe die Diagnose beiseite gedrängt. Etwas in mir hat mir ganz deutlich vermittelt, dass es erst einmal notwendig sei, Abstand von allem, was mich täglich umgibt, zu bekommen. Meinen Arzt habe ich verwundert in seinem Sprechzimmer zurückgelassen. Er kam nicht mal mehr dazu, mir seinen schon zurechtgelegten Therapieplan zu erläutern. ›Ich melde mich, wenn ich zurück bin!‹, waren meine Worte, als ich ihn das Sprechzimmer verließ.«
Hannes sah Anne erneut an. In ihrem Gesicht nahm er ein leises Zucken der Augenwinkel wahr. ›Ein Ausdruck von Besorgnis?‹, fragte er sich.
»Und nun bin ich hier, tauche in meine Vergangenheit ein und treffe auf dich. Sag, was machst du so, wie geht es dir?«
Anne holte tief Luft, flatterte einmal heftig wie ein Vogel mit ihren Armen und setzte ihren Weg fort.
»Komm, lass uns weitergehen. Unterwegs werde ich dir von mir erzählen.«
Hannes wandte seinen Blick zur Wasserkante, die sich bereits gut hundert Meter zurückgezogen hatte. Er sah einigen Möven beim Flug zu. Eine von ihnen kam segelnd auf sie zu, flog nur wenige Meter über ihren Köpfen vorbei und war im nächsten Moment hinter der Düne verschwunden.
»Meine Enkelin Zoé hast du ja schon kennengelernt. Sie ist die einzige Tochter meiner meinerseits einzigen Tochter Lilou. Uns eint das Schicksal alleinlebender Frauen. Sie hat sich früh, Zoé war gerade zwei Jahre alt, von ihrem Mann getrennt. Mein Mann Jules ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Damals war Lilou noch zu Hause. Sie stand kurz vor ihrem Abitur. Kurz gemacht: Mein Mann hat zu Lebzeiten den Tabakladen seines Vaters weitergeführt. Ich habe ihn dabei unterstützt. Doch als er tot war, habe ich lange keinen Schritt mehr in den Laden gesetzt. Anfangs hat meine Schwiegermutter, mein Schwiegervater war im Jahr zuvor an Krebs verstorben, den Laden sporadisch geöffnet, die ersten Stammkunden blieben schon weg, bis Lilou sich nach dem bestandenen Abitur gegen das Studium entschieden hat und einfach hier geblieben ist. Heute hilft Zoé häufig aus, wenngleich schon klar ist, dass sie im nächsten Sommer mit dem Studium beginnen wird.«
Hannes spürte, wie Anne ihre eigenen Worte aufzuwühlen schienen. Er legte den Arm auf ihre Schulter und sie schlang den ihren um seine Hüfte. Ihre Vertrautheit hatte etwas Natürliches, geradezu Folgerichtiges.
»Darf ich dich gleich zu mir nach Hause auf eine Tasse Kaffee einladen. Ich glaube, ich habe auch noch einige selbstgebackene Madeleines.«
»Aaaaah, köstlich!«
›Gerne nehme ich deine Einladung an‹, wollte er noch ergänzen. Die Worte blieben ihm jedoch im Halse stecken. Stattdessen strich seine rechte Hand sacht über ihren Rücken. Ihre Linke wiederum ergriff seine Hand, hielt sie, drückte sie.
Dann ließ sie seine Hand los, trat einen Schritt zurück und stemmte die Hände in ihre Hüften.
»Wir sind wie zwei alte Teenager!«
Während sie dies sagte, strahlte sie.
Hannes wurde von einem Schwall Rührung erfasst und war im Begriff zu weinen, als er in ihrem Blick eine ihm bekannte, auffordernde Art wiedererkannte, die so viel bedeutete wie ›Komm!‹.
Während er noch seine Gedanken zu sortieren versuchte, war sie schon losgelaufen, drehte sich um und rief im zu:
»Komm! Wer zu erst an meinem Haus ist, hat gewonnen.«
Ohne sich klar darüber zu werden, dass er nicht wusste, wo ihr Haus war und dass es darum auch keinen Sinn haben würde, ihr vorwegzueilen, er also im Grunde nicht siegen konnte, lief er ihr dennoch hinterher. Er tat so, als wolle er siegen, holte sie rasch ein und ließ sich, wenn er mit ihr auf Höhe war, wieder zurückfallen.
Irgendwann blieb er stehen und rief ihr nach.
»Halt nicht so schnell! Du hast es mit einem sterbenskranken Mann zu tun. Hab etwas Nachsicht!«
Er hatte diese achtlos in die vom Meer fein zerstäubte und salzig duftende Meerluft geworfenen Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da blieb sie abrupt stehen, drehte sich um und eilte auf ihn zu.
»Mon cher, verzeih mir. Ich war achtlos.«
Noch während Anne ihren Worte weiter Ausdruck geben konnte, war Hannes erneut losgelaufen und eilte davon, bis er in guter Entfernung einer verdutzten Anne hinterherrief.
»Nun komm! Sonst bin ich wirklich der Erste.«
Kopfschüttelnd nahm sie ihren Wettlauf fort und brauchte nicht lange, bis sie ihn kurz vor dem Bunker gestellt und überholt hatte.
Bald schon war sie auf halbem Weg die Düne hinauf und im Begriff, hinter dieser zu verschwinden. Hannes blieb einen Augenblick zurück, hielt erneut an, verschnaufte. Dann setzte er seinen Lauf fort, wobei er deutlich spürte, wie ihm die Beine immer schwerer wurden.
Als er die Düne abwärts ließ, was Anne aus seinem Blickfeld verschwunden. Einige Urlauber kamen ihm mit ihren Strandutensilien.
Er fasste sich ein Herz und fragte nach der Frau im beigefarbenen Sommerkleid mit Pferdeschwanz, vorauf eine ältere Dame die Hand erhob und in Richtung des nahegelegenen Pinienwaldes zeigte.
Sogleich nahm Hannes seinen Lauf wieder auf. Ein immer heftiger werdendes Seitenstechen hinderte ihn am Weiterlaufen. Er blieb stehen und war bemüht, sich durch ruhiges Atmen seiner Seitenstiche zu entledigen. Gleichzeitig dachte er darüber nach, ob er nicht an der Zeit war, aus dem eigentümlichen Spiel auszusteigen.
Da spürte er von hinten den leichten Druck einer Hand. Noch bevor er sich umdrehen konnte, lagen zwei Hände auf seinen Augen.
»Du Hexe! Ich weiß, dass du es bist. Wärst du nicht wieder aufgetaucht, so wäre ich zurückgelaufen.«
»Ei, Don Juan, ist verärgert?!«
Anne ergriff bei ihren Worten seine Schultern, drehte Hannes um die eigene Achse zu ihr hin und sah ihn leicht nickend an. Mit einer leichten Kopfbewegung nach oben rückwärts gewandt sah sie in durchdringend und auffordernd an.
Sie löste ihren Griffe, drehte sich ihrerseits um und nahm nun gemäßigten Schrittes ihren Weg wieder auf.
Da Hannes nicht sogleich folgte, drehte sie sich nochmals um und hielt ihm die Hand entgegen.
»Komm!«
Mehr musste sie nicht sagen. Es reichte aus, um Hannes kurzzeitig aufgekommenen Ärger hinwegzujagen.
Als sie gewahr wurde, dass Hannes ihr wieder folgte, beschleunigte sie ihren Schritt. So trabten sie auf dem von weichem Waldboden, einer dunklen Mischung aus hellem Sand und dunklen feingemahlenen Piniennadeln dahin. Die Mittagssonne fiel durch die meist nur in der Krone bewaldeten Wipfel der Pinien und hinterließ hie und da bizarre Lichtmuster auf dem Boden, ein Wechselspiel aus Licht und Schatten.
Eine Weile folgten sie noch einem asphaltierten Radweg, bis Anne unangekündigt wiederum vom Weg abbog, einem Trampelpfad folgte und vor einem kleinen Landhaus stehen blieb. Es lag abseits auf einer kleinen Lichtung und war umgeben von sehr alten Pinien.
»Herzlich willkommen! Fühl die wie zu Hause. Wenn du magst, hinten raus, hinter dem Haus ist die Toilette. Ich kümmere mich um den Kaffee, es dauert eine Weile, denn ich muss erst den Kaffee mahlen. Der Kaffee schmeckt so immer noch am Besten.«
»Danke!«
Hannes sah sich um. Er entdeckte auf der Veranda eine Hängematte und beschloss, sich in ihr ein wenig auszuruhen. Vorher wollte er aber seine seit geraumer Zeit gefüllte Blase erst einmal entleeren.