Hors Saison II,X

Hors Saison Titelbild

Hannes nahm in der Hängematte Platz. Er hatte einem ersten Impuls, Annes Haus zu betreten, widerstanden.
Der vor ihm liegende Garten hatte etwas Wildes. Weite Teile waren mit einem für die Jahreszeit typischen blassgrünen Rasenteppich bedeckt, der einige kahle Stellen aufwies. Neben glühenden Blumenbeeten, die ungeordnet verteilt das eintönige Ambiente aufhellten, standen einige Rhododendronbüsche in ihrer vollen Farbenpracht. Ihre doldenartige Blütenstände hatten sich längst völlig entfaltet und würden bis in den Spätsommer noch das Auge des Betrachters erfreuen.
Er bewunderte die Blütenpracht eines hoch aufgewachsenen Strauches in der Nähe der Veranda. Beim genaueren Hinsehen glaubte, er eine Zikade erkennen zu können. Sie hob sich aufgrund ihrer kräftig grüne Grundfarbe kaum vom Grün des Blattes ab. Hannes erkannte sie an ihren orangefarbenen Flecken auf der Oberseite ihres Halsschildes. Als sie ihren typischen Ton erklingen ließ, war er sich ganz sicher, dass er mit seiner Beobachtung richtig lag. Er liebte das Zirpen dieser auf den ersten Blick Heuschrecken gleichenden Wesen. Wenn er sich richtig erinnerte, dann gehörten die Zikaden zur Gattung der Schnabelkerfen, die mit ihren besonderen Mundwerkzeugen sich über das Blattwerk hermachen. Ein speziell dafür ausgebildeter Saugrüssel intubierte das Blatt und saugte vor allem den zuckerreichen Saft aus. Ihre Gattung war weltweit sehr verbreitet und stellte für manche Forscher ein Viertel aller lebenden Organismen. Von ihnen wusste man, dass sie sehr sensibel auf Veränderungen in ihrer Umgebung reagierten.
»Es ist wunderbar hier«, fasste Hannes seine gerade gewonnenen Eindrücke zusammen, als Anne mit einem Tablett auf die Veranda trat.
»Ja, ich bin gerne hier. Das Haus liegt abseits und hierhin kommen nicht allzu viele Menschen. Im Ort zu leben, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Schon allein in den Sommermonaten mit den ganzen Touristen.«
»Soll ich wieder gehen?«, konnte sich Hannes nicht verkneifen, zu sagen.
»Ganz und gar nicht, ich werde den Mosaikstein meines Lebens nicht so schnell wieder aus der Hand geben. Wollen wir hier draußen unseren Kaffee trinken?! Später kann ich dir meine Höhle zeigen.«
»Gerne. So kann ich den Zikaden noch etwas lauschen. Ihr Ton hat für mich etwas Beruhigendes.«
»So, so. Möchtest du in Ruhe deinen Kaffee einnehmen, ohne von einer gemeinsamen Konversation gestört zu werden!?«
Annes Ironie hatte etwas Belebendes. Hannes griff selbst gerne zu ironische Formulierungen. Sie waren für ihn Ausdruck von Verbundenheit, loteten nicht selten den tieferen Grad einer Beziehung aus. Er liebte es genau das Gegenteil von dem zu sagen, was der Wahrheit entsprach. Diese neckenden Worte waren wie kleinste Nadelstiche für all jene, die sich allein auf die Nüchternheit eines aus Faktizitäten bestehenden Seins zurückgezogen hatten. Diese fanden zwar bisweilen zu Beschreibungen wie ›Ich liebe dich‹, aber diese klangen wie die Worte aus einer Gebrauchsanweisung, leblos und fremd.
›Ein gutes Zeichen‹, dachte Hannes. Ironie verbindet. ›Vorsicht!‹, war von seinem Alter Ego zu hören. ›Nein!‹, erwiderte er. ›Es gibt keinen Grund, sich Gedanken zu machen. Ich bin hier und das ist gut so. Und wohin mich die Thermik des Tages, der folgenden Zeit bringen wird, steht offen. Gleichwohl habe ich jetzt schon den Beleg in den Händen, dass meine Flucht, keine war, vielmehr ein Aufbruch. Wohlan!‹
»Wo bist du?«, fragte Anne, als absehbar war, dass Hannes ihre ironische Frage nicht beantworten würde.
»Entschuldige. Ich war in Gedanken. Mein Alter Ego hat mich … Gut, lass uns hier draußen den Kaffee genießen. Ich bin gespannt, von dir mehr zu hören.«
Anne spürte, dass ein Aufgreifen des gerade gesponnenen Fadens, nicht ratsam sei. Hannes Alter Ego würde sich später noch zeigen, darin war sie sich sicher.
Nach einer Weile griff Anne einen anderen Faden wieder auf.
»Ich wohne hier, seitdem mein Mann verunglückt ist. Früher war es so eine Art Rückzugsort der Familie. Wir waren gerne an Wochenenden hier, wenn die Touristen wieder einmal wie Heuschrecken über unseren Ort hereingefallen sind. Ja, viele von uns leben von euch Touristen, entschuldige nochmals, als solchen kann, und will ich dich heute nicht betrachten, auch wenn die Motive deines Kommens durchaus auch touristischer Natur gewesen sein werden. Auf jeden Fall ist dieser Ort mein Rückzugsort geworden. Meine Art, mich in gewisser Weise vom Leben zurückzuziehen.
»Gelingt es dir?«, wollte Hannes wissen und ging damit nicht weiter darauf ein, als Tourist tituliert worden zu sein. In seiner Situation war ihm ganz und gar nicht danach irgendwo Urlaub zu machen. Sein Rückzug hatte etwas viel Existenzielleres. Er hatte einen Ort gesucht, an dem er den Blick für das, was vor ihm lag, frei bekommen konnte, ohne in den naheliegenden und gewohnten Kategorien – Therapie, Umstellung der Lebensgewohnheiten, Steigerung der Lebensqualität, wenn auch nur für beschränkte Zeit, Aufschub des nahenden Todes … – denken zu müssen.
»Du bist ganz abwesend!«, antwortete Anne, ohne auf die Frage einzugehen.
»Jetzt muss ich mich entschuldigen. Alles, was in den letzten Tagen seit meiner Ankunft hier geschieht, öffnet Türen, lässt meine Gedanken sprudeln. Selbst, wenn ich wie gerade, eine Frage stelle, antwortet mein Inneres gleichzeitig selbst. Vielleicht sollte ich aufhören, mit anderen zu kommunizieren?!«
»Das wäre schade. Nehmen wir uns einfach so, wie wir sind. Ich habe das Gefühl, wir haben uns sehr viel zu sagen und damit gerade erst begonnen. Eine Tür ist aufgestoßen, die so lange verschlossen war.«
»Ich will nochmals zu meiner eben gestellten Frage zurückkehren. Kannst du dich vom Leben zurückziehen?«
»Auf gewisse Weise ja. Nach dem Tod von Jules habe ich lange gebraucht, um ins Leben zurückzufinden. Dieser Ort hat mir geholfen. Hier konnte ich sein, einfach sein, ohne darüber nachdenken zu müssen, wie es angemessen wäre, was andere, selbst meine Familie von mir erwarten. Aber etwas Anderes ist viel bedeutsamer: Hier habe ich Stunden der Einsamkeit, der tiefsten Verlassenheit und Verzweiflung einen Teil von mir kennengelernt, der mir bis dahin verborgen war. Ich habe hier zum ersten Mal die große schöpferische Kraft in mir gespürt, den Wunsch etwas zu gestalten, mich auszudrücken. Ich habe hier begonnen, dieser Kraft Ausdruck zu geben. Manche sagen heute, ich mache Kunst. Dies ist für mich ganz und gar unbedeutsam. Ich habe mit der Zeit meine Ausdruckweise gefunden, habe gemalt, gehandwerkt …«
Anne hielt inne. In ihrem Inneren schien ein Film abzulaufen.
»Ich kann mich noch gut an das erste Mal erinnern, als ich einer weißen Leinwand zu Leibe gerückt bin. Über Stunden, nein was sage ich, es waren Tage, in denen ich keinen einzigen Strich, keinen einzigen Farbklecks zustande gebracht habe. Im Kopf habe ich mich den Bildern großer Künstler gemessen. Das hat mich so sehr gehemmt, dass ich fast schon aufgegeben habe. In einem Anflug aus Resignation und Wut habe ich angefangen, einige Farbtuben auf der Leinwand auszudrücken. Ich wollte die Leinwand damit für den weiteren Gebrauch unbrauchbar machen. Dann habe ich begonnen, die ausgedrückte Farbe wie wild auf der Leinwand zu verteilen. So ist mein erstes Bild entstanden. Nichts Großes. Und doch von ihm würde ich mich nie trennen. Denn dieses Bild ist mehr als ein Bild. Es war die Geburt eines anderen Ichs. Diesem Ich, so ist mir heute klar, konnte ich nur hier begegnen. Und in allem, was ich bis heute erschaffen habe, ist die, jetzt lach bitte nicht, die Magie dieses Ortes zu spüren.«
Hannes konnte berührt von ihren Worten nur sprachlos nicken. Nur zu gut konnte er sich selbst an seine eigenen kreativen Versuche erinnern, seine ersten Schreibversuche. An die erste Zeile, die er damals noch in eine alte Schreibmaschine gehämmert hatte. Ähnlich resigniert und wütend, wie Anne dies gerade beschrieben hatte. Er war von schwirrenden Gedanken erfasst. Hatte eine Idee, fragte sich unablässig, wie er dies nur zu Papier bringen könnte, hatte das Gefühl, als komme nichts so sehr wie auf den Beginn eines Romans an, begann in Büchern nach den Anfängen zu schauen, griff zu den Klassikern und wunderte sich bisweilen, wie geradezu belanglos der Anfang daherkam, so gar nichts preiszugeben schien, was im weiteren Verlauf für andere Weltliteratur geworden war. Am Ende tippte er ›Flüchtig sah er auf die Leuchtziffern des Weckers. Es war 6:14:34.‹ Was später folgte, war etwas weniger zögerlich, war in den eignen Augen immer noch keine literarische Offenbarung. ›Das digitale Rot ließ keine Zweifel aufkommen. Die Ziffern setzten konstant und unbeirrbar ihren Abzählvorgang fort. Nur ein Batterieausfall hätte diesen präzisen Vorgang zeitweilig unterbrechen können. So lag er schon einige Augenblicke wach im Bett, als eine synthetische Stimme erklang: „Guten Morgen, es ist Montag, der 7. April. In wenigen Sekunden ist es 6 Uhr und fünfzehn Minuten. Ich wünsche ihnen einen erfolgreichen Tag.“ Er war seiner Zeit immer ein Stück voraus. Dies zeichnete ihn aus. Allein seinem bisweilen übertriebenen Hang, jede Unwägbarkeit auszuschließen, verdankte der Wecker noch seine Existenz.‹ Das Geschriebene war wie der Arbeitstitel des Buches ›Faksimile‹, der Versuch einer Nachbildung geblieben. Der Entwurf lag irgendwo, verstaubte, blieb weiter unberührt. Erst sehr viel später erkannte er, dass der Akt des Schreibens, wie jeder schöpferische Akt, nicht allein der Vorgang einer mühsam zu erringenden technischen Verfeinerung glich. Vor allem galt doch eines: Aus dem Willen allein, etwas zu erschaffen, wurde so noch kein Werk. Der Schaffende musste nicht nur bereit sein, mit dem zu Erschaffenden zu scheitern, er musste gleichsam einwilligen in die Handschrift, die er unweigerlich seinem Werk dadurch aufdrücken würde, dass er bereit war, aus der Tiefe seines Ichs heraus schöpferisch tätig zu werden. Man konnte eine Blume malen und doch war die Blume, die später sichtbar werden würde, keine mit einer anderen Blume Vergleichbare. Die Einzigartigkeit des Lebens, allen Lebens fand auch in den schöpferischen Prozessen des Menschen Ausdruck. Dies war der tiefere Zusammenhang, warum zum Beispiel Kochrezepte noch kein gutes Gericht herbeizauberten. Das Leben als ein zu nachzukochendes Rezept zu betrachten, hatte etwas Verwerfliches.
Wieder riss Anne ihn aus seinen Gedanken.
»Hast du Interesse mein erstes Bild zu sehen? Ich würde es dir jetzt gerne zeigen.«
Das Bild hing in Annes Schlafzimmer. Direkt über dem Bett. Hannes versuchte nicht, in dem, was Andere als Mischmasch entlarvt hätten, etwas zu erkennen. Er ließ allein die Farbe auf sich wirken.
Die Farben waren eher gedeckt, fast schon dunkel. Und doch drückte die Komposition eine ungeheure Energie aus. Es war weniger die Auswahl der Farben. Es war der Schwung des Pinsels, der über die ausgedrückte Farbe hinweggefegt war. Das Bild hielt eruptive Momente fest, Momente eines Herausbrechens aus sich selbst. Für ein kritisches Auge war das, was das Bild offenbarte, nichts weiter als der dilettantische Versuch, sich künstlerisch zu betätigen.
»Und, was sagst du?!«
Anne war neugierig von Hannes zu hören, was er dachte. Er brauchte noch eine Weile, bis er Worte für das fand, was gerade in im vorging. Darum hob er eine Hand leicht an, wie um anzudeuten, dass er noch seine Worte finden musste.
»Es ist großartig«, begann er mit leicht bebender Stimme.
»Es zeigt ganz und gar das, was du vorhin beschrieben hast. Diesen Kampf mit dir selbst, all die Scheu, es doch zu wagen, die Unkenntnis, geschuldet der mangelnden Erfahrung zu wissen, wie Farben sich zueinander verhalten, wie sie wirken. Hier hat sich jemand selbst auf die Leinwand ausgekippt. Schonungslos und offen, sein Inneres geöffnet. Die grobe Art des Striches verrät die Härte eines Borstenpinsels. Wer zu ihm greift, ist sich bewusst, dass er keine feinen Linien schaffen wird. Jeder Pinselstrich ist sichtbar, selbst dort, wo die Farben ineinander verlaufen und eine ganz eigene Komposition entstehen lassen.«
Hannes hielt inne, wechselte mit wenigen Schritten zur einen und anderen Seite die Position und damit den Blick auf das Bild.
Anne wurde ungeduldig.
»Nun sprich weiter.«
»Schau hier: Siehst du, wie das tiefe Blau und das benachbarte an manchen Stellen noch leuchtenden Gelb einander begegnen, ineinanderfließen und übergehen. Hier kannst du es besonders gut sehen.«
Hannes deutete mit dem Finger auf eine Stelle auf dem Bild.
»Hier hast du den Pinsel beim Gelb angesetzt, bist hinübergefahren zum Blau, hast einen Grünton erzeugt, bist zurückgefahren und hast dort einen weiteren Farbton kreiert.«
Hannes war sichtlich beeindruckt.
»Was du mit diesem Bild erschaffen hast, ist mehr als ein Bild. Im Schaffensprozess lässt du eine tiefere Weisheit unseres Sein vor meinem inneren Augen entstehen und damit vor allen Betrachtern, die dieses Bild je gesehen haben, oder noch sehen werden. Leben heißt sich verbinden. Menschen verbinden sich miteinander. Und so sehr sie sich auch bemühen, integer zu bleiben, jede Form des Vermischens zu verhindern suchen, sie scheitern. Wir sind keine für sich abgeschlossene Wesen. Unseren Anfang verdanken wir einer Verbindung und werden zeitlebens nicht müde uns immer neu zu verbinden uns in Beziehung zu einem anderen Ich zu bringen. Dabei bleibt immer etwas von einem Selbst zurück. Dafür nimmt man etwas vom anderen Selbst auf und trägt es seinerseits fort an einen anderen Ort, wo es sich wieder verbindet. Wer will hier noch von einem geschützten Selbst reden?«
»Mir wird ganz schwindelig, bei dem, was du beschreibst. Ich sehe mein Bild, von dem ich weiß, wie bedeutsam es für den Ausbruch meiner schöpferischen Kraft war, nun mit noch anderen Augen. Danke, für deinen Blick, der mir etwas eröffnet, was mir nun noch viel Grundlegender scheint: das Wesen unseres Seins im Akt der Verbundenheit.«
Hier wurde ihre Stimme dünn und brüchig. Hannes machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie fest und innig.
Etwas benommen von der Nähe und dem Duft, den er so unauffällig wie möglich in sich aufgesogen hatte, viel es ihm schwer, sich wieder von Anne zu lösen.
Sie musste dies bemerkt haben, denn die nun folgende Frage zeigte wieder ganz die um keine Direktheit verlegene Anne.
»Wie rieche ich?«
Verlegen sah Hannes zu Boden. Dann hob er den Blick und antwortete gefasst:
»Ganz gut.«
»Ganz gut?! Du machst Witze.«
»Nein, du riechst …». Hannes rang nach passenden Worten.
»Nun sag`s schon, frei heraus!«
»Du riechst, wie soll ich sagen … einfach nach Mensch.«
»Wow, soll das gar ein Kompliment sein?!«
»Nimm es als solches. Ich kann dich riechen und das ist wunderbar. Du riechst nicht nach Waschmittel oder Weichspüler, nicht übertrieben nach einem Deo, bist nicht eingehüllt in eine Wolke aus Parfum. Und das, obwohl du nach der Schilderung deiner Enkelin, nicht ohne die Aussicht mich wiederzusehen, in den Tag gegangen bist. Ich könnte annehmen, du wolltest gerochen werden.«
»Du bist immer noch so charmant wie früher. Kannst du dich noch erinnern, was du mir an unserem einzigen Abend zu meinem Kleid gesagt hast?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich habe ich nicht sagen können, wie sehr du mich mit deinem Äußeren beeindruckt hast und darum zu einer ironischen Bemerkung gegriffen.«
»Genau so war es. Mit einem langen Gesicht hast du erst auf wiederholte Bitte meinerseits etwas sagen wollen. Deine Worte waren genau genommen verletzend. ›Für unseren letzten Abend hättest du dich nicht so herausputzen müssen. Außerdem steht dir die Farbe deines Kleides überhaupt nicht. Sie ist grässlich und ist eine Zumutung für meine Augen.‹ Deine Augen haben ganz etwas Anderes gesagt. Sie leuchteten und du hast mich mit ihnen den ganzen Abend aufgespießt.«
»Daran erinnerst du dich noch?«
»Es ist, als sei es gestern gewesen.«
»Nun übertreibst du aber.«
»Mag sein, aber unser Gespräch gerade, hat mich diese alte Verbundenheit wieder spüren lassen. Ich könnte auch sagen: Du hast damals deine Farbspuren bei mir hinterlassen und hast ein Stück von mir mit dir genommen. Nun kehrst du zurück, ich schaue dich an und sehe ein Teil von mir wieder. Ist das nicht herrlich kitschig? Vielleicht sollte ich mich aufs Schreiben verlegen? Dafür malst du in Zukunft. Dein Blick für die Dinge scheint ja ein ganz Besonderer zu sein.«
»Kitschig?! Nenn es, wie du willst. Dein Abgang an jenem Abend war alles andere als romantisch. Die ganze Nacht habe ich auf dich gewartet. Gegen Morgen bin ich erschöpft eingeschlafen. Als ich wach wurde, musste ich feststellen, dass du längst fort warst.«
»Wie sehr ist mir diese Nacht in meinem weiteren Leben nachgegangen. Ich habe meinen Vater verflucht. In jener Nacht hat er auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen und mir deutlich gezeigt: ›Du entgehst meinem Blick nicht. Mach dir keine falschen Hoffnungen!‹ Am nächsten Morgen, als mein Vater noch früher als vorgesehen mit uns zu seinem Bruder aufs Land losgefahren ist, habe ich mir die Augen aus dem Kopf geheult. Auch auf die Gefahr hin, alle Klischees zu bedienen, die es gibt: Seither spüre ich ganz deutlich, dass mir etwas verloren gegangen ist. Auch ein Grund, warum ich dich als den fehlenden Stein in meinem Mosaik meines Lebens betrachte. Unser Gespräch über mein Bild verstärkt diesen Eindruck um so mehr.«
Fast fluchtartig verließ Anne ihr Schlafzimmer. Sie eilte aus ihrem Haus auf die Veranda, flatterte wie vor Stunden am Strand mit den Armen und glich noch mehr einem Vogel, der vergeblich versucht, vom Boden abzuheben.
»Kann ich dir helfen?«, war Hannes, der ihr gefolgt war, in ihrem Rücken zu hören.
Sie drehte sich um. Schüttelte erst den Kopf, dann nickte sie heftig.