Wortlos machten beide einen Schritt aufeinander zu. Wie Magnete mit unterschiedlichen Polen zogen sie einander an.
Anne glich dabei einer auf dem Meer dahintreibenden Boje. Sie wollte gefunden und wieder ihrer Bestimmung zugeführt werden, wollte verankert werden.
Im letzten Augenblick wich Hannes zurück.
»Was ist?«
Anne schaute ihn verwundert an. In Gedanken hatte sie sich schon in seinen Armen verkrochen. Sie trat einen Schritt zurück.
Hannes blieb seinerseits stehen und sah an ihr vorbei. Gerade noch war er im Begriff gewesen, sich von den aufkommenden Gefühlen dahintreiben zu lassen. In seiner Phantasie war er längst wieder mit Anne in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt und bereit, den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Nun aber hielt ihn etwas auf Abstand. Er musste an seinen ironischen Ausspruch von vorhin denken. ›Hexe!‹ Welches Spiel war sie im Begriff mit ihm zu spielen? Nein, welches Spiel war er bereit mitzuspielen?
Hannes spürte das Bedürfnis, sich bewegen zu müssen, ging an ihr vorbei die Stufen der Veranda in den Garten hinab und dort eine Weile auf und ab.
»Hannes, verzeih! Ich bin sichtlich verwirrt. Ich habe mich so sehr gefreut, dich wiederzusehen. Ja, ich habe mir, seitdem ich gestern von Zoé erfahren habe, dass jemand nach mir gefragt hat und mir klar war, dass nur du es sein kannst, vorgestellt, wie es sein wird. Die letzte Nacht konnte ich vor lauter Vorfreude nicht schlafen. Dann kam der Augenblick des Wiedersehens und die Ereignisse haben sich überschlagen. Es war, als habe zwischen unserer letzten Begegnung und dem Heute nur eine einzige Nacht gelegen. Ich spürte wieder diese Verbundenheit von damals, von der ich bis heute nicht weiß, worin sie eigentlich bestand. Darum ärgert es mich, dass ich so unachtsam mit mir und mit uns umgegangen bin. Soll ich uns noch einen Kaffee machen? Und dann würde ich mich gerne weiter mit dir unterhalten.«
Hannes sah kurz auf, nickte.
Die letzten Worte von Anne hatten ihn versöhnlich gestimmt. Wie um sich noch etwas abzulenken, nahm er sich vor, den hinteren Teil des Gartens zu erkunden. Er glich dem Vorderen. Eine Grundstückgrenze war nicht recht auszumachen. Etwas trieb in voran. Erst nach einigen Minuten wurde ihm klar, das er längst in den Pinienwald vorgedrungen war.
›Bezeichnend‹, dachte er. ›Wir schreiten voran und finden und plötzlich ganz wo anders wieder.‹
»Hannes!«
Von naher Ferne drang der Ruf Annes zu ihm durch. Der Kaffee war offensichtlich fertig.
Als Hannes die Veranda betrat und auf der Bank Platz nahm, sah ihn ein leuchtendes Augenpaar an.
»Bist du noch sauer?«
»Wie kommst du darauf? Ich war nicht sauer. Ich war verwundert über das, was sich ereignet hat. Das Tempo, in dem sich alles in den letzten Stunden ereignet hat, hat mich verwirrt. Ich bin nicht hierher gekommen, um in die Vergangenheit einzutauchen. Noch bin ich dir an diesen Ort gefolgt, um die Vergangenheit vergessen zu machen.«
Während er dies sagte, hatte er den Eindruck, innerlich mit dem Kopf zu schütteln. So, als traue er seinen eigenen Worten nicht. Sicherlich war die Auswahl des Ortes, für den er sich nach seiner Flucht entschieden hatte, nicht ganz ohne die Vergangenheit zu erklären. Und doch, vielleicht war gerade angesichts seines wahrscheinlich bald nahenden Todes eine alte Sehnsucht in ihm aufgebrochen, der Wunsch gewachsen, er könne an einem Ort der Vergangenheit einen Teil seines Lebens wiederfinden. ›Eine Art Abschiedsreise also‹, dachte er.
»Wenn ich ehrlich bin, Anne, dann war meine Absicht nochmals hierher zu kommen, allein dem Umstand geschuldet, einen Teil meiner Vergangenheit aufzuspüren und nachklingen zu lassen. Es ist, als würde man eine alte Schallplatte auf den Plattenteller legen und abspielen. Man kennt den Ort auf der Platte, die Rille genau, wo der Tonarm sich absenken muss, damit die Nadel die geliebte Melodie noch ein letztes Mal zum Erklingen bringt.«
Hannes starrte vor sich hin. Sein Blick war ganz nach innen gewandt.
»Und dann tauchst du, wie aus dem nichts auf und für Augenblicke scheint alles wie früher zu sein. Nur bin ich nicht dabei, mir ein neues, anderes Leben zu gestalten. Ich stehe am Abgrund. Ich weiß, dass mein Weg an ein baldiges Ende kommen wird. Soll ich dir, selbst wenn ich spüre, dass mir durchaus danach sein könnte, etwas vormachen?«
»Wovon redest du?«
»Ich rede von uns.«
»Glaubst du wirklich, das Leben könnte sich in so einfachen, geradezu trivialen Dingen ergehen?«
Hannes blicke auf und konnte nicht glauben, was er hörte. Er war jedoch außerstande, Anne etwas zu entgegnen.
»Ich sage es gerne nochmals …«
Anne spürte, wie ihr Ton schärfer wurde. Sie holte tief Luft. Sie war sich klar darüber, dass die nun hervorbrechende Schärfe nichts mit Hannes zu tun hatte. Diese galt vielmehr ihrem eigenen Leben, ihrem bisweilen grenzenlosen Ekel vor sich selbst. Der Rückzug war nicht nur das, was sie Hannes vorzugaukeln versucht hatte. Dieser Ort war Refugium wie Gefängnis in einem, ein Ort der Selbstkasteiung. Hier sollte sie für all ihre Unzulänglichkeiten büßen, für all das, was sie bis zum heutigen Tag vor sich hergeschoben hatte, was ihr jede Sekunde ihres Lebens den Atem nahm. Hannes war doch im Grunde nur ein willkommenes Opfer ihrer Einsamkeit. Bald schon, wenn ihr Plan aufging, würde sie mit dem Finger auf ihn zeigen und hinter ihm her rufen können: ›Dir allein verdanke ich mein Ungemach. Mit dieser Schuld wirst du leben müssen.‹
»Was ist mit dir?«, fragte Hannes. Sein Ton drückte Besorgnis aus.
»Gerade war ich meinem eigenen inneren Abgrund sehr nahe.«
Hannes fragte nicht nach. Er wusste, dass dies nicht der geeignete Augenblick dazu war.
Anne versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen und begann von Neuem.
»Vielleicht ist es nun an der Zeit, etwas von meiner großen Leidenschaft zu erzählen. Lass uns aber erst in Ruhe unseren Kaffee zu Ende genießen!«
Hannes kam aus dem Staunen über das, was sich in einem fort ereignete, nicht heraus. Er wollte sich jedoch in Gelassenheit üben.
Wenig später führte Anne ihn in ihren Wohnraum. Im Grunde vereinigte dieser eine große Raum alles: Küche, Ess- und Wohnzimmer.
Sie blieb vor einem kleinen Beistelltisch stehen. Auf ihm lag ein Holzbrett mit Zahlensteinen mit wiederkehrendem Zahlenwert. An der Zahlenfolge erkannte Hannes sofort, um welches Spiel es sich handeln musste. Solch eine Ausführung hatte er bislang noch nicht zu sehen bekommen. Er kannte noch die verschriftlichte Form in verschiedenen Printmedien oder im Netz.
»Suji wa dokushin ni kagiru!«
»Wie bitte!?«
»›Suji wa dokushin ni kagiru!‹ ist Japanisch und heißt so viel wie ›Isolieren Sie die Zahlen‹. Aber ich möchte dich nicht mit der Entstehungsgeschichte dieses für mich faszinierenden Spieles langweilen.«
Hannes verstand immer noch nicht so recht, worauf Anne hinaus wollte.
»Lass uns hier Platz nehmen! Ich will dir von meiner großen Leidenschaft berichten.«
Beide nahmen Platz.
»An jenem Abend, als ich über Stunden im Krankenhaus warten musste, die Notoperation meines Mannes hat fast die ganze Nacht gedauert, versuchte ich mich mühsam wach zu halten. Ich wollte nicht einschlafen. Wollte in Gedanken bei meinem Mann sein. So habe ich irgendwann zu einer Zeitschrift gegriffen und zu Blättern begonnen. Auch dies ermüdete mich auf Dauer nicht weniger. Also nahm ich mir vor, mit dem Lösen einiger Rätsel meinen Geist wach zu halten. In dieser Nacht habe ich mein erstes Sudoku gelöst. Es war nicht allzu schwer, aber das Denkspiel hat mich gleich in seinen Bann gezogen. Vor Jahren habe ich mir von einem befreundeten Schreiner dieses Brett anfertigen lassen. Dort spiele ich mein Tagesrätsel, entnommen einem kleinen Heftchen mit wirklich kniffligen Aufgaben. Manchmal sitze ich über Stunden hier. Ich durchlaufe alle emotionalen Stadien, die du dir vorstellen kannst. Dieses hier, habe ich gestern begonnen, aber nicht mehr fertigstellen können.«
»Mosaikstein des Lebens«, entfuhr es Hannes.
Dies waren die Worte Annes, die sie mantraartig schon einige Male wiederholt hatte.
»So ist es. Unser Leben besteht aus vielen verschiedenen Mosaiksteinen. Keiner ist wegzudenken. Keiner darf fehlen. Erst, wenn alle zusammenfinden, ergibt sich eine Gesamtschau, das Bild unseres Lebens. Gleichzeitig sind wir alle Mosaiksteine in einer übergeordneten weiteren Dimension. Das ist wahrhaft Magie!«
»Magie?«
»Freilich! Du hast sicher schon einmal ein solches Rätsel gemacht?«
Hannes nickte.
»Und wahrscheinlich auch eines von der schwierigeren Kategorie, also eines, an dem man sich wahrhaft festbeißen kann?«
Hannes nickte abermals.
»Gut, dann kennst du auch alle emotionalen Regungen von Frustration bis Glück, die dieses Spiel hervorruft?«
Hannes nickte immer noch.
»Das Spiel hat eine feste Ausgangssituation. Es weist einer Reihe von Zahlen ihren festen Ort zu. Darum herum sind viele leere Kästchen, die nach und nach gefüllt werden müssen.«
Hannes merkte, wie er ungeduldig wurde.
»Und?!«, wollte er wissen.
»Ganz ruhig! Ich bin dabei, dir alles zu entfalten. Dies braucht etwas Zeit. Die Ausgangssituation lässt sich mit unserem Sein zu Beginn unseres Lebens vergleichen. Wir werden nicht aus dem Nichts ins Leben gebracht. Vor uns gibt es Dinge, die uns und unser weiteres Leben determinieren.«
»Und du glaubst nun«, unterbrach Hannes sie. Er wollte das Ende ihrer Worte nicht abwarten.
»Du glaubst, ich bin so ein dir fehlender Zahlenstein im Mosaik deines Lebens?«
»Nun sei nicht so ungeduldig! Vom Ergebnis betrachtet, also von der Lösung des Rätsels, gibt es nur je einen Ort für jede Zahl in jedem der neun Quadrate. Zahlen mit gleichem Wert sind dabei variabel. Das heißt, es ist durchaus eine Varianz im Spiel vorgesehen. Dazu später. Eines ist jedoch bedeutsam: Die Lösung des Rätsels liegt fest, der Weg dorthin ist variabel. Es gibt Stadien im Spiel, die sind durch hohe Varianz ausgezeichnet. Zum Ende hin nimmt diese ab.«
Anne machte eine Pause.
»Ich bin also der fehlende Stein?«, wiederholte Hannes seine Frage.
»Ja«, antwortete Anne, ohne dein Eindruck zu machen, ihre knappe Antwort weiter kommentieren zu müssen.
Hannes wusste nicht, ob er nur ungläubig den Kopf schütteln, oder gleich zur Widerlegung des Gesagten ansetzen sollte. Er entschied sich, erst einmal gar nicht darauf einzugehen. Er wollte abwarten.
Anne nahm dies wahr, überlegte kurz und setzte in ihrer Argumentation erneut an.
»Ohne auf die Zahlensymbolik der einzelnen Zahlen weiter einzugehen, die bei der Lösung des Rätsels unberücksichtigt bleiben kann, möchte ich nur dieses nochmals hervorheben und wiederholen: Es gibt nur einen Ort für jeden Stein. Zwar gibt es von jedem Zahlenwert neun Steine, aber verbindet man das Mosaik des eigenen Lebens mit dem in einer übergeordneten Dimension, so wird einem schnell klar: Es gibt wirklich nur einen Ort für jeden Stein.«
»Jetzt wird mir schwindelig von deinen Ausführungen«, musste Hannes zugeben.
»Das ist die Magie dieses Spieles, die im Grunde nichts Anderes als die Magie des Lebens offenbart: Ergänze dein Lebensmosaik durch die fehlenden Steine! Und, was vielleicht noch bedeutsamer ist: Finde den Ort deines Lebenssteines!«
»Werde Teil eines größeren Bildes, einer weit verzweigten Dimension!«, ergänzte Hannes mit seinen Worten.
»Trefflich formuliert!«
»Weißt du, welche Frage sich mit einem Mal aufdrängt und ich Scheu habe sie auszusprechen?«
»Nur zu, sprich sie aus!«
»Welchen Mosaikstein nimmt meine Frau Klara in meinem Lebensmosaik ein?«
»Ich glaube, jetzt hast du erfassen, dass es bei unserem Wiedersehen um mehr geht als um das Eintauchen in eine Vergangenheit.«
»Wohl wahr.«
»Gleichwohl kann es nicht verkehrt sein, den Zauber der Vergangenheit nochmals wirken zu lassen.«
Annes letzte Worte hatten etwas Herausforderndes und Hannes wurde sich klar, dass er bereit war, sich dieser zu stellen.
»Du bist ein wunderbarer Mensch.«
»Du auch.«
»Hexe!«
»Vorsicht, mein Lieber! Du bist dir glaube ich nicht im Klaren, welche Kräfte in mir schlummern.«
»Ich fürchte doch. Dein Bild, von dem ich immer noch angetan bin, hat es mir gezeigt. Wie gut, dass die Zeiten sich gewandelt haben und Hexen nicht mehr zwangsläufig auf dem Scheiterhaufen landen.«
»Meinst du?«
Anne sah Hannes mit funkelnden Augen an.