Hors Saison II,XII

Hors Saison Titelbild

»Das Leben als ein Mosaik zu betrachten hat etwas Gewinnendes. Gleichwohl ist es so wie mit allen Bildern, die wir finden, um die Wirklichkeit zu beschreiben, sie stoßen an ihre Grenzen. Doch lass mich zunächst noch hören, was es mit der Varianz der einzelnen Steine auf sich hat!«
»Wollen wir zurück auf die Veranda kehren?! Hier im Haus ist die Luft in den letzten Tagen etwas stickig. Draußen weht eine leichte Brise. Kann ich dir noch etwas anbieten?«
»Ein Wasser wäre jetzt nicht schlecht.«
Wenig später saßen beide wieder auf der Veranda. Das Zirpen der Zikaden war deutlich zu hören.
Der Redefluss der letzten Minuten war zeitweilig unterbrochen. Es schien, als würden beide ihren Gedanken, die das Gesagte ins Rollen begracht hatte, nachgehen.
Anne war es, die das Gespräch mit einer spitzen Bemerkung wieder aufnahm.
»Du weißt wohl, dass die Dienste einer Hexe in Anspruch zu nehmen, seinen Preis hat?!«
Hannes sah Anne mit Stirnrunzeln an.
»Wie meinst du das? Ich bin mir bewusst, dass ich mich auf einem gefährlichen Terrain bewege. Anders als beim Spiel kann ich im Leben doch nichts auf Probe hin tun. Jeder Zug hat seine Auswirkungen. Trotzdem kann ich im Augenblick alles, was sich außerhalb des Dunstkreises meiner Diagnose ereignet, geradezu mit großer Gelassenheit betrachten. Auch wenn ich es nicht zeige, der Gedanke an meinen baldigen Tod nimmt mich sehr gefangen, lässt mich innerlich beben. Es ist keine Form der Koketterie, wenn ich versuche, über ihn zu reden.«
»Was machst du dann hier? Müsstest du nicht ganz wo anders sein, deinen Arzt konsultieren, Therapiemöglichkeiten ausloten, letzte Vorkehrungen treffen? Ist die Flucht, wie du sie selbst bezeichnet hast, der richtige Weg?«
»Seit einigen Stunden ist der Gedanke an die Flucht zurückgetreten, wenngleich es mir, wie erwähnt, weniger um eine reale Flucht ging, als um die Möglichkeit, den Kopf freizubekommen. Ich wollte ungestörter auf das schauen können, was das Mosaik meines Lebens in seiner Gesamtschau betrachtet mir zeigt. Dies hat gewiss seinen Preis. Ich bin bereit den Preis dafür zu zahlen.«
»Lass gut sein, mein Lieber. Es geht wirklich nicht um Bezahlung. Die Gelegenheit dich um mich zu haben, an Altes anzuknüpfen und Neues miteinander zu teilen, ist unbezahlbar.«
»Ich stimme dir zu. Auch ich bin froh und dankbar hier zu sein. Der Preis dafür ist möglicherweise hoch. Verpasse ich den rechtzeitigen Beginn einer doch noch möglichen Therapie? Habe ich meine Klara mit meiner Flucht so sehr vor den Kopf gestoßen, dass sie sich nur von mir abwenden kann? All dies bin ich bereit zurückzustellen. Ich bin hier, das zählt. Und wenn du recht hast mit deiner Philosophie der Steine, dann gibt es zum Hiersein auch keine Alternative. Also erzähl mit nun von der Varianz der Positionen!«
»Das will ich gerne. Ruf dir nochmals ins Gedächtnis das Spielbrett mit seinen einundachtzig Feldern. Jeder Zahlenwert hat seinen Platz in einem der neun Quadrate. Manche Steine habe einen festen Platz, bevor das Spiel beginnt, also auf das Leben übertragen heißt dies: Es gibt Dinge, die sind schon da, auch in mir da, bevor ich zu leben beginne, ja und das ist das wirklich Magische, es gibt Dinge vor meiner Zeugung, die mit dafür verantwortlich sind, dass ich einst gezeugt werde. Die Varianz des Spiels besteht nun aus zweierlei. Der Verlauf des Spieles ist nicht nur in Hinsicht auf seine Lösung hin offen, das heißt, die Möglichkeit des Scheiterns besteht immer. Gleichzeitig ist die Reihenfolge der Ablage der Steine in einem gewissen Maße variabel. Der etwas geübte Blick erfasst meist sehr schnell die Logik der Ablage für eine überschaubare Anzahl von Steinen. Dann jedoch beginnt die eigentliche und spannende Phase des Spieles. Hier ist der Verlauf der Ablage kaum noch variabel. Es kommt nicht selten vor, dass ein einziger neu abgelegter Stein das Spiel zu einem erfolgreichen Ende führt. Diese Phase des Spieles, die noch so reizvoll sein kann, konfrontiert uns mit wechselnden Emotionen. Selbst die Möglichkeit der Aufgabe kommt in den Blick. Nach Minuten krampfhaften Schauens, manchmal zieht sich diese Zeit mehr als einer Stunde oder noch länger hin, wird der Geist mürbe. Ich beginne, mit der mir gestellten Aufgabe zu hadern. Hier muss ich eine grundlegende Entscheidung treffen. Bleibe ich redlich bei den mir gegebenen Möglichkeiten und setze das Spiel nach seinen Regeln fort, oder bediene ich mich einer für das Spiel unlautere Hilfe. Viele Ausführungen des Spieles in den Printmedien liefern im hinteren Teil gleich die Lösungen mit. Diese Phase möchte ich die Phase des drohenden Selbstbetruges nennen. Im wirklichen Leben gibt es mannigfache Möglichkeiten uns vorzeitig zum Erfolg zu katapultieren. Lösungen, die uns vorgaukeln, wie wären längst am Ziel. Hier greift vor allem das Wesen der Religion, jeder Religion so scheint mir. Sie zerwirft den Gedanken an ein Scheitern. Lässt ihn hinter sich, mit einem geschickten und feinen Zug: Sie trennt Lösung unseres Lebensspiels vom Jetzt, von unserem konkreten Leben. Ungeachtet des Verlaufes unseres Lebens verspricht sie eine Lösung, gar Erlösung. Der von solchen Trugbildern ergriffene Geist wird sodann aufhören, sein Spiel fortzusetzen. Es lässt das Leben bewenden als das, was es zu sein scheint. Gar unwichtig scheint dem von solcherlei Vorstellungen Infizierten die Fortsetzung des Spieles. Er wird sich fortan begnügen, dem Tag nicht mehr abzuringen versuchen, als jeder Tag zu geben bereit ist. Das Sein, jeder Stein des Seins wird somit seiner Bedeutung beraubt. Ob es ihn gibt oder nicht, es gibt niemanden, der sich der Frage nach Mustern annimmt. Keine Suche mehr nach dem Stein der Weisen. Weisheit wird geradezu überflüssig, wenn ich schon da bin, wohin mich das Spiel des Lebens mühsam und allzu oft unter Qualen hinbringt. Jedoch: Nichts was je geschieht, ist bedeutungslos. Es ist der irrige Aberglaube, der uns seit Jahrtausenden betäuben will. Es ist die unseren Verstand trübende Idee, alles, was ist oder sein wird, könne hinweggenommen werden. Das Martyrium eines Mannes, der eigentlich nicht von dieser Welt war, vermöge durch sein Leiden zu erwirken, dass alles was je geschah und je noch geschehen werde, keine bleibende Bedeutung haben wird. Das Leben lehrt uns etwas Anderes … und darum nur darum haben sich unsere Wege noch einmal gekreuzt und darum habe ich bis heute diesen Tag herbeigesehnt, an dem du nochmals auf dem Brett meines Lebens auftauchen würdest, damit ich dich endlich ablegen kann.«