Hors Saison II,XIII

Hors Saison Titelbild

Annes Stimme bebte. Sie war von ihren eigenen Worten ergriffen, fast in Trance.
»Verzeih, wenn ich in einem fort weiterrede, ohne dir Raum zu geben, etwas zu ergänzen, oder zu erwidern. Etwas strebt in mir auf, aus der Tiefe meines Inneren, etwas von dem keiner, wirklich keiner bis heute Kenntnis erhalten hat. Und ich glaube, nein ich bin mir sicher, es wird bedeutsam sein für den Fortgang unseres Gespräches. Wenn ich mich an jenen Morgen erinnere, als mein Vater uns nötigte, mich nötige, früher als geplant zu meinem Onkel aufzubrechen, als es mir nicht möglich war, ihm ein ›Nein‹ entgegenzuschreien, als ich mich fügte in das, was kommen sollte, da ist mit mir etwas geschehen, etwas von dem ich auch Jahre später noch nicht wusste, was es war. Hier gilt es, soviel lass mich einschieben, zu erfassen, welche Bedeutung jener Morgen für mein Leben haben würde, welche Bedeutung jedes Ereignis, jedes Ablegen eines Stein, für den weiteren Verlauf des eigenen Lebens haben wird. Dennoch spürte ich damals schon, da war etwas, da geschah, indem es nicht geschah, etwas Bedeutsames. Als wir Tage später zurückkehrten, warst du längst fort. Ich vergrub mich, verließ tagelang kaum das Bett. Meine Gedanken eilten zu dir hin. Ich konnte nicht fassen, dass das, was noch nicht einmal begonnen hatte, nicht mehr sein sollte. In jenen Tagen begann ich, zu fressen. Anders lässt es sich nicht beschreiben. Ich begann, das Leben in mich hineinzufressen … und ich fraß … und fraß. Ich wollte das Leben, oder das, was mir zum Fraß vorgesetzt wurde, in mich hineinfressen, um es sogleich wieder auszuspeien. Es war eine grausame Zeit zwischen Kühlschrank und Kloschüssel, ein unablässiges Hin-und-her-Wandeln. Dieses Gefühl, etwas in mich hineinfressen zu können, was mir das Leben verwehrte, wurde mit jedem Mal mächtiger. So fraß ich, fraß ich. Meine Existenz war Fressen. Erst viel später begriff ich, dass aus dem Fressen eine Sucht, eine Manie geworden war. Da war es zu spät. Ich war außerstande sie zu lassen, in einer Abhängigkeit gefangen. Meine Eltern machten sich damals große Sorgen. Ich nahm ab, war bald nur noch Haut und Knochen, wurde ins Krankenhaus eingeliefert und gut zwei Wochen zwangsernährt. Keiner von ihnen, weder meine Eltern noch die Ärzte, auch der behandelnde Psychologe nicht, erahnte etwas von dem tieferen Zusammenhang. Keiner war in der Lage, zu begreifen, zu erfassen, was in mir vorging. Ich selbst nicht. Viel später, ich hatte mich auf einen jungen Mann eingelassen, einen Touristen, wie du, hatte eine rauschende Liebesnacht verbracht und war doch am nächsten Morgen an den Kühlschrank zurückgekehrt, hatte wieder alles in mich hineingestopft, um am Ende über die Kloschüssel gebeugt alles auszuspucken. In diesem Augenblick wünschte ich mir nichts sehnlicher, als könnte ich alles Ungemach des Lebens aus mir herausspucken. Zu unserem verabredeten Treffen am Nachmittag ging ich gar nicht erst hin. Als der Tourist bei uns klingelte, ließ ich mich verleugnen. So ging es mir häufig mit weiteren Bekanntschaften, die nie mehr sein konnten. Als ich meinen späteren Mann kennenlernte, den Vater meiner Tochter Lilou, wurden diese Attacken immer seltener, bis sie irgendwann einfach aufhörten. Etwas war nach Jahren endlich zur Ruhe gekommen. Ich fand zurück zu einem geregelten Essen. Erst gestern habe ich den Zusammenhang zwischen dem Damals und meiner über die Jahre bleibenden Unruhe erkannt. Dabei geht es mir nicht darum, über eine Zukunft nachzudenken. Es geht allein um das, was damals geschah und so einen Einfluss auf mein weiteres Leben hatte, dass ich es heute kaum beschreiben kann.«
Anne schien, ihre Gedanke erneut sammeln zu müssen, bevor sie fortfuhr.
»Glaube mir, dass man den Stein nach all den Jahren nicht so einfach ablegen kann. Zuviel hat sich dazwischengedrängt. Das Leben hat längst eine andere Wendung genommen, oder man hat gar mit einem anderen Spiel begonnen, in der Hoffnung, es dieses Mal zu Ende führen zu können. So tritt das Vergangene ganz zurück, wird überdeckt von neuen Erfahrungen und Eindrücken. Im Verlauf unseres Lebens halten sich die Wenigsten mit einem Spiel auf. Dass alle Spiele auf geheimnisvolle Weise dennoch zusammenhängen, auch dies ist mir nun bewusst.«
»Ich«, begann Hannes mit gebrochener Stimme.
»Auch ich habe diese Nacht nie so recht verwunden. Sie hat gewirkt. Ich kann heute noch spüren, wie deine Hand in der meinen lag. Die Wärme, der Beginn einer gerade erst dem Ei entschlüpften Verbundenheit, die ein zaghafter, leichter Händedruck zum Ausdruck brachte. Ich sehe dich noch vor mir in deinem wunderschönen Kleid. Ich sehe das Leuchten in deinen Augen. Doch, schon während wir zusammen waren, war mir, als würden deine Augen noch etwas Anderes zeigen, eine Art Rückzug, eine Vorahnung, dass das was kommen würde, schon vorgezeichnet war. Immer wenn ich mich in den folgenden Jahren jemandem annäherte, habe ich deinen Blick gesucht. Es waren die Augen, die mich zunächst einmal und vor allem interessiert haben. Ich hoffte etwas wiederzufinden, von dem was, ohne das es sich so recht entfaltet hätte, verlorengegangen schien. Und so habe ich gesucht, auf meine Weise gesucht und doch nicht gefunden. Im Älterwerden nähert man sich einer Weisheit an, die da sagt, dass das Leben darin bestehe, Dinge hinter sich zu lassen und anzunehmen, dass manches unvollendet bleibt. Tief in mir hat stets etwas dagegen rebelliert. Wenn mich bis heute etwas auf Abstand von anderen Menschen gebracht hat, dann war es wohl eher in mir selbst begründet, weil ich das, was ich suchte, nicht fand, nicht finden konnte. Noch bevor ich dir vor Kurzem das erste Mal wieder in die Augen schauen konnte, habe ich lange damit gekämpft, ob ich wirklich dazu bereit bin. Nichts habe ich mehr gefürchtet, als einen leeren und kalten Blick von dir zu erhalten. Eine Stimme in mir hat es verworfen und gesagt: ›Du kannst nicht das, was längst Vergangenheit ist, wiederfinden.‹ Versuche es erst gar nicht. Und doch als du mich dann angeschaut hast, konnte ich deinem Blick nicht widerstehen. Verstehe mich nicht falsch, es ist keine Art von Liebeserklärung, die ein dem Tode geweihter, in die Jahre gekommener Mann, seiner Jugendliebe noch machen könnte. Wer weiß, ob es je Liebe war, weil es nie dazu kam, es wirklich auszuloten. Möglicherweise war es nur Schwärmerei unter Jugendlichen. Heute scheint es, halte ich in der Hand etwas, was, wie du sagen würdest, nach diesem verlorenen Stein aussieht. In Gedanken drehe ich die Zeit zurück und lege den Stein nieder. Und dann, was dann? Wenn es im Leben für jeden Stein nur eine Position gibt, so gibt es auch nur eine Zeit, in der man ihn ablegen kann. Später passt er nicht mehr, ein anderer mit dem gleichen Wert liegt an seiner statt am gleichen Ort, oder er passt einfach nicht mehr hinein in das Muster eines veränderten Lebens. Die Wirkung, die der Stein einst hätte entfalten können, bleibt eingekapselt und verliert mit den Jahren an Wirkung.«
Schweigen. Langes Schweigen trat zwischen sie. Nein, es trat nicht zwischen sie, es umfing sie. Es war ein schmerzvolles Schweigen, voller Bitterkeit, die in ihren Kehlen brannte. Waren sie sich erneut begegnet, um all dies miteinander zu teilen, gemeinsam darunter zu leiden?