Hors Saison II,XIV

Hors Saison Titelbild

»Ich habe noch eine gute Flasche Wein. Lass uns ein Glas miteinander trinken!«, durchbrach Anne nach einer Weile das Schweigen.
Hannes nickte müde. Beide erhoben die Gläser wortlos. Es gab keine passenden Worte.
Anne hatte in wenigen Zügen das Glas gelehrt und spürte, wie der Alkohol schnell zu wirken begann. Hannes nippte zunächst,tat es ihr dann aber gleich.
Nach einer Weile stand Anne auf, ergriff Hannes Hand und sagte:
»Komm!«
Hannes ließ es wortlos geschehen. Sie führte ihn um das Haus herum durch das hintere Grundstück in den dahinterliegenden Pinienwald. Ihre Hand lag fest in der seinen. Die Finger umschlungen einander. So gingen sie, meerwärts.
Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, war westwärts gezogen und tauchte nun den Wald in immer tiefer werdende Farben. Zwischen den dünnen Stämmen hindurch war hie und dort die nahende Düne zu sehen.
Der Anstieg hinauf auf die Düne war etwas mühsam. Die Beine schwer, der Geist benommen. Als sie die Kuppe erreichten, wurden sie geblendet vom gleißenden Licht eines silbern schimmernden Meeresspiegels, dem die Küste in dieser Region seinen Namen verdankt: Côte d’Argent.
Für einen kurzen Augenblick verstärkte sich der Druck ihrer Hände, bis die einzelnen Finger zu schmerzen begannen und sie einander wieder losließen.
Wie auf Kufen ließen sie sich die Düne herabgleiten. Nicht weit entfernt von der Wasserkante blieben sie stehen, verweilten und sahen ziellos auf das Meer.
Die Flut hatte längst die Ebbe überspült. Die Wassermassen brachen dicht vor ihnen unter einem ohrenbetäubenden Tosen. Die Gischt spritze auf und der Wind trug vom Salzwasser zerstäubte Luft zu ihnen. Hannes so sie in sich auf. Er liebte diesen salzigherben Duft.
Anne zog ihre Schuhe aus und legte diese einige Meter zurück ab. Hannes hatte sich ihrer schon vor dem Abgang von der Düne entledigt. Er wollte den warmen an manchen Stellen noch heißen Sand unter sich spüren. Als er seine Hosenbeine hochkrempelte, stand Anne schon längst bis zu den Waden im Wasser.
Die Wellen umspülten ihre Beine und ließen sie tiefer und tiefer in den Ufersand versinken, bis Anne das Gleichgewicht verlor und einfach umkippte.
Hannes half ihr wieder auf die Beine.
»Komm!«, forderte Anne Hannes ein zweites Mal auf, zeigte in Richtung der Stelle, wo ihre Schuhe liegen mussten. Dort begann sie, sich zu entkleiden. Hannes sah ihr im ersten Moment verwirrt zu, begann, zu schwanken, verwarf Bild um Bild, das sein Inneres erschuf.
Schon bald stand sie nackt vor ihm. Zu anderen Zeiten hätte er mit seinem Blick nicht von ihr lassen können. Nun sah er kurz in ihre Augen und wendete den Blick von ihr ab. Was er sah, bewegte ihn tief. Als er seinen Blick wieder auf sie richtete, war der Ihre direkt auf ihn gerichtet.
»Komm!«, sagte sie nun zum wiederholten Male und war, bevor er überhaupt reagiert konnte, längst losgerannt. Mit einem gewagten Kopfsprung sprang sie in die über ihr im gleichen Augenblick zusammenstürzende Welle, tauchte unter ihr durch, hinter ihr auf. Die erhobene rechte Hand forderte auf, ihr unverzüglich zu folgen. Dieses Mal blieb ihr ›Komm!‹ ungehört. Dennoch verfehlte es nicht seine Wirkung.
Hannes kannte das Meer gut, eilte mit beherzten Schritten einer der nächsten heranwogenden Welle entgegen und nahm sie so rechtzeitig, dass die herabstürzende Wasserwand ihm nichts mehr anhaben konnte.
Als Hannes auftauchte, war Anne direkt vor ihm. Sie sah ihn an, sagte nichts, schaute. Ihr Blick sprach wortlos.
In der Folge stürzten, ohne das sie rechtzeitig reagieren konnten, eine Reihe von weitaus höheren Wellen direkt über ihnen ein. Sie hatte Mühe, zwischen den einzelnen Wellen rechtzeitig zum Atemholen wieder aufzutauchen. Jedes Mal schnappten sie nach Luft, bevor die nächste Welle sie erfasste und in die Tiefe drücke.
Die Zeit zog sich. In beiden stieg die Anspannung, ein Anflug von Panik bemächtigte sich ihrer. Gleichwohl waren beide erfahren genug, um ihr nicht weiter Raum zu geben. Panik, so wussten sie, konnte sie in wirklich arge Probleme stürzen.
Sie waren unachtsam gewesen, hatten für einen kurzen Moment versäumt, den Blick meerwärts zu richten. Nicht selten, auch das wussten sie, türmten sich Wellenberge hinter eine Abfolge von kleineren Wellen urplötzlich auf und drohten, einen unter im wahrsten Sinne des Wortes zu begraben. Wer das Meer nicht kannte, lief Gefahr, in nur wenigen Augenblicke ein Stück Treibgut des Meeres zu werden.
Als das Meer sich wieder etwas beruhigt hatte, schwammen sie aufs Meer hinaus, gerade so weit, bis sie sicher zu sein glaubten, dass ihn Ähnliches nicht wieder passieren könnte. Sie waren außer Atem, schnappten noch einige Male nach Luft, bis sich ihre Körper zu entspannen begannen.
Immer noch waren es allein die Augen, die sprachen.
Die nächste Folge von riesigen Wellen, die sich über ihnen aufbaute, nahmen sie schreiend. Es waren keine Angstschreie, sondern Freudenschreie, wenngleich ihnen allzu bewusst war, dass sie ein nicht ungefährliches Spiel mit der Natur spielten. Ging hier etwas schief, käme jede Hilfe von Außen zu spät. Selbst ihre leblosen Körper würden für einige Zeit ganz dem Meer gehören und erst einmal für unbestimmte Zeit weggetrieben.
Über ihnen war der Rotor eines nahenden Hubschraubers zu hören. Die Küstenwacht patrouillierte fast jeden Tag den Küstenabschnitt.
Galt ihnen die Beobachtung? Sie sahen nicht weit von sich entfernt einige Surfer in der typischen Haltung auf ihren Brettern sitzen.
Der Hubschrauber flog dicht über sie hinweg nordwärts. ›Hoffentlich nur ein Routineflug‹, dachte Hannes. Am Vortag war noch an einem Nachbarstrand ein Tourist zu Tode gekommen. Es hieß, er habe sich zu weit raus gewagt und sei in Unkenntnis des Meeres ihm zum Opfer geworden. Der Leichnam war am Morgen einige Kilometer südlich angespült worden.
Erneut türmten sich die Wellen vor ihnen auf. Sie konnte sie dieses Mal rechtzeitig und in guter Position nehmen. Mit jeder weiteren Welle wurden sie in schwindelerregende Höhe katapultiert. Für Sekundenbruchteile konnten sie die vor ihnen liegende Dünenlandschaft bewundern, teilweise sogar über sie hinwegschauen. Hannes versuchte, das nicht weit vom Strand entfernte Landhaus Annes auszumachen – vergeblich.
Nach einiger Zeit deutete Anne mit der Hand Richtung Ufer. Wieder an Land zu kommen, stellte eine eigene Kunst dar, galt es doch auch hier, den rechten Zeitpunkt zu finden. Bei anderer Dünung wäre es ihnen möglich gewesen, sich Welle um Welle an Land spülen zu lassen, ganz ruhig und gemächlich. Dies war aber nicht möglich. Dafür waren die Wellen des Tages zu gewaltig. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als die nächste Flaute abzuwarten.
Erschöpft ließen beide sich, endlich wieder gestrandet, in den am Ufer feuchten Sand fallen. Das heranschwappende Wasser umspülte ihre Körper. Die Hitze des Tages war verflogen. Die Sonne vermochte es immer noch, sie angenehm zu erwärmen.
Bald schon begann Anne vor sich hin zu reden, so laut, dass Hannes sie gerade noch verstehen konnte.
»Dann gibt es noch jene Steine, die obgleich sie in einem anderen Spiel nicht zu Einsatz kamen, oder was noch misslicher ist, infolge des Zusammenwirkens verschiedener Umstände nicht abgelegt werden konnten, eines Tages hervorgeholt werden, um in einem zufällig anmutenden Augenblick doch noch abgelegt zu werden. Nicht, dass sie damit das alte unvollendete Bild vollenden könnten, nicht das das Rätsel dadurch seiner Lösung zueilen könnte. Dennoch will auch dieser Stein abgelegt sein.«
Hannes wandte sich zur Seite, stützte sich auf und sah sie an. Immer noch gelang es im nicht, dem Blick ihrer Nacktheit standzuhalten. So sah er über sie hinweg. Kleine Wolken von Gischt wurden von einer stärker werdenden vom Meer kommenden Brise hochgewirbelt und landeinwärts getrieben.
Eine Weile starrte er so vor sich hin, bis der Arm steif zu werden begann und er sich erneut zurückfallen ließ.
Anne lag von allem unbeeindruckt mit geschlossenen Augen dar und wiederholte:
»Dennoch will auch dieser Stein abgelegt sein.«
Und, als ob dieser Satz einer weiteren Bekräftigung bedürfe, wiederholt sie ihn immer wieder, bis sie ihn zu singen begann und die Zeile einer Arie daraus wurde:
»Dennnnooch will diiiiieeeseeer Stein aaabgeleeeegt seeeeeiiiiin!«
Erst jetzt und dies zum ersten Mal bemerkte Hannes, welch kraftvolle Stimme Anne hatte.
»Ist dies ein zufällig anmutender Augenblick?«
»Was?!«
»Was gerade geschieht, ist dies ein zufällig anmutender Augenblick?!«
Anne schien immer noch nicht so recht zu verstehen, was Hannes meinte. Sie sah ihn fragend an.
»Später«, erwiderte Hannes und machte eine abweisende Handbewegung. Er nahm wahr, dass er sie gerade nur bedingt mit Worten erreichen konnte.

Als sie auf dem Rückweg waren, Anne, immer noch in ihren Gedanken gefangen, einige Schritte vor ihm her lief, passierte in Hannes etwas, was er nur zu gut kannte. Ein einziges Wort, hatte einen Schwall an Assoziationen ausgelöst.
Zufall, zufällig, ›Zufälle gibt es nicht‹, Zufallsgenerator, Zufallsbekanntschaft, ›Es kann kein Zufall sein‹, ›Der Zufall hat es in meine Hände gespielt.‹, ›Der Zufall hat mich hierhin verschlagen.‹
Ohne, dass er sich versah, wurde ihm ein altes Zitat ans Ufer seines Bewusstseins gespült:
›Nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall ist voller Zauber. Soll die Liebe unvergesslich sein, so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle niederlassen, wie die Vögel auf den Schultern des Franz von Assisi.‹
Als sie auf die Veranda traten, war Hannes immer noch damit beschäftigt zu ergründen, von wem dieses Zitat stammte. Es wollte ihm nicht einfallen.