Hors Saison II,XV

Hors Saison Titelbild

Der Vorhang der Dusche wurde beiseitegeschoben. Ein Frauenkörper erschien vor ihm. Sie glich einer vom Augenblick Getriebenen. Er hielt inne, vergaß zu atmen. Ihm wurde schwindelig. Benommen sah er sie an. Durch eine Wand aus Nebel versuchte er, sich zu vergewissern. Nein, er träumte nicht. Weit aufgerissene Augen schauten ihn an, durchdrangen ihn. In ihnen funkelte das Leben wie ein gerade entfachtes Feuer. Ihm war, als habe das Alkaloid eines Pfeilgiftfrosches zu wirken begonnen. Seine Beine begannen zu zittern. Ein innerer Kampf begann. ›Halt dich fern!‹ gemahnte ihn die eine. ›Komm lass dich treiben!‹ raunte eine andere. Und dann dieser Blick, der ihn nicht mehr losließ. Etwas strebte in ihm vor. Gleichzeitig hielt ihn etwas zurück. Da machte sie einen Schritt auf ihn zu. Nun stand sie so dicht vor ihm, dass er sich kaum noch den wachsenden Gefühlen erwehren konnte. Wankend suchte er Halt. Ihre Hände hielten ihn fest umschlungen. Er konnte die glatte Haut ihres Körpers spüren. Nach und nach öffneten sich all seine Poren, sprangen auf. Nun war auch er bereit, ihr zu begegnen, zunächst mit Bedacht, dann immer zielstrebiger. Jede Zurückhaltung schwand im Taumel der Gefühle. Es war, als haben sie sich schon immer gekannt. Hände begannen spazieren zu gehen, suchten sich ihren Weg. Es glich einem Wandern durch Landschaften, die sich vor ihnen auftaten. In ihm war eine unbändige Freude an jedem Hügel und Tal, an jeder noch so kleinen Falte und Erhebung dieses anmutigen Körpers, der sich ihm entgegenwarf und mit steigender Lust an den seinen schmiegte. Vorangetrieben vom aufsteigenden Verlangen saugte sich jede seiner Körperzellen an der ihren fest. Taumelnd nach Halt gingen sie zu Boden. Über ihnen der unablässig herniederprasselnde Wasserstrahl. Trunken voller Gefühl schnappten sie wie zwei Ertrinkende nach Luft. Ineinander verschlungen vollführten sie rhythmisch kreisende Bewegungen. Ergriffen vom Gleichklang ihrer Körper gerieten sie außer sich. Wellen de Lust und Leidenschaft umspülte sie, gleich einer mächtigen Brandung, die über das Ufer tosend zusammenstürzt. Rollend sich vorwärts schiebend. Langsam ausklingend. Seichtes und sanftes Schwappen des Meeres über den Ufersand.

Als Hannes die Augen öffnete, wurde er gewahr, dass jemand neben ihm lag. Es konnte nur Anne sein, die auf dem Rücken neben ihm lag, alle Viere von sich gestreckt.
In der Dunkelheit der Nacht konnte er nicht viel erkennen. Der Kopf lag zur Seite, ihm zugewandt. Sanft strich er ihr durch ihr Gesicht. Eine Hand wanderte sehend am Hals entlang, abwärts. Er ergriff ihren Arm und zog sie sanft zu sich. Sie war völlig entspannt. Es war leicht für ihn, sie auf die Seite zu drehen. So lag sie mit angewinkelten Beinen neben ihm. Er sog den Duft ihrer Haut ein. Es war der Duft, den er in der Gasse aufgeschnappt hatte, gemischt mit Duft zweier Körper, die sich gefunden hatten. Seine Hand wanderte über ihren Rücken. Einen Augenblick glaubte er zu spüren, dass sie sich seiner Hand entgegenstreckte. War sie wach, fragte er sich und erschrak. Er unterbrach sein Streicheln und horchte angespannt in die Dunkelheit. Er glaubt, sie atmen zu hören, was nicht allzu leicht war, weil der Gesang der Zikaden fast alles übertönte. Ihre Lippen machten beim Ausatmen, ein sonderbares Geräusch. Ein leichtes Zucken ging durch ihren Körper. Wieder hielt er inne und versuchte, sich zu vergewissern, dass sie immer noch schlief. Bald schlief auch er wieder ein.

»Hannes, wie sieht es aus mit einer guten Tasse Kaffee und einem leichten Frühstück, oder willst vor dem Frühstück noch ein Bad nehmen?«
Aus seinem Halbschlaf herausgerissen, öffnete Hannes langsam seine Augen. Er brauchte einen Augenblick, bis sich die Augen an das grelle Licht der durch das Fenster einfallende Morgensonne gewöhnt hatte. Er sah vor sich die Silhouette einer Gestalt. Sein Gesichtsausdruck drückte leichte Orientierungslosigkeit aus.
»Ich bin’s Hannes.«
»Ach, du!«
›Was für eine Aussage‹, dachte Anne.
Hannes kramte in seinem Gedächtnis und kam in seiner Erinnerung zunächst nur bis zum Baden am Strand. Danach riss der innere Film ab. Er später sollte er sich an Einzelheiten des zurückliegenden Abends und Teile der Nacht erinnern.
Als Hannes auf die Veranda trat, hatte Anne schon Platz genommen und goss gerade den frischen Kaffee in zwei Becher ein. Er stellte erleichtert fest, dass sie nun nicht mehr nackt war. Sie hatte sich ein T-Shirt mit einer großen Sonnenblume übergestreift.
Hannes nahm dankend den Becher Kaffee entgegen.
»Irgendwie scheine ich einen Filmriss zu haben.«
»Kein Wunder, wir haben gestern Abend fast drei Flaschen Wein geleert. Auf dem Weg in mein Schlafzimmer schienst du noch agil. Offensichtlich hat dir dieser kurze Gang den Rest gegeben. Du bist nur noch auf mein Bett gefallen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich dich entkleidet hatte.«
»Dann haben wir also nicht …«
Anne unterbrach ihn. Sie sah, wie Hannes leicht errötete.
»Nein, wir haben nicht.« Weiter kam auch sie nicht. Anne schüttelte dabei bekräftigend den Kopf.
»Wirklich nicht?!«
»Nein, mein Lieber!«
»Mir war so, als … Vielleicht habe ich auch nur geträumt.«
»Offensichtlich, denn irgendwann hast du dich in der Nacht hin und her gewälzt und entsprechende Geräusche gemacht.«
»Geräusche?«
Worüber redete sie, fragte sich Hannes und spürte überdeutlich, wie ihm ganz heiß wurde.
»Das mit dem Ablegen üben wir noch. Aber erst werden wir uns mit einem Frühstück stärken. Was hältst du von Joghurt mit Müsli und frischem Obst?«
»Eine gute Idee.«
Hannes hätte zu allem ›Ja‹ gesagt. Während sie in Haus zurückkehrte, um das Frühstück zu bereiten, war er vor allem froh, eine Weile alleine zu sein. Er hoffte, zu sich zu kommen.
Als er sich mit dem Becher Kaffee in der Hand erhob und im Begriff war, in den Garten zu gehen, um sich dort ein wenig die Beine zu vertreten, sah er an sich herab und stellte fest, dass auch er außer der Unterhose und einem T-Shirt nichts anhatte.
Er ging um das Haus, blieb vor dem Wasserhahn, der aus der Fassade herauskam stehen und drehte an ihm. Sofort kam ihm ein Schwall Wasser entgegen. Das Kühle nass roch anfangs leicht modrig.
Hannes drehte den Wasserhahn aus, schloss einen nahegelegenen Gartenschlauch an und drehte den Hahn erneut auf.
»Du kannst gerne etwas komfortabler duschen!«, entgegnete Anne, als sie ihn suchend neben dem Haus antraf.
Wie, um Zeit zu gewinnen, nickte Hannes, fixierte sie mit seinem Blick und richtete mit einer schnellen Wendung den Schlauch auf sie. Im Nu war auch sie bis auf die Haut nass.
Später fanden sie sich in ihrem Bett wieder, erschöpft und erfüllt.

Die Hitze des Tages hatte sich längst wieder ausgebreitet. Die Luft im Schlafzimmer war stickig. Dennoch genossen beide die Nähe, waren dicht aneinandergeschmiegt. Ihre Haut war von einem feuchten Film überzogen.
Wie am Vortag begann Anne in Gedanken vor sich hinzureden. Mit Bedacht setzte sie Wort an Wort, nahm ihre Gedanken wie einzelne Kugeln einer Kette auf und ließ aus ihnen ein Bild entstehen.
»Mancher Stein in unserem Leben, den wir eine besondere Bedeutung zusprechen, sind keiner konkreten Person zugeordnet. Sie tragen etwas Apersonales in sich.«
Hannes sah sie verwundert an. Er konnte nicht recht glauben, was er hörte. Was sie im Begriff, das gerade Geschehene kleinzureden.
»Und das mag dich verwundern, es ist der Königs-, oder Königinnenstein. Auch er wird wie alle anderen nur einmal gesetzt. Er kennt keinen festen Augenblick. Früher oder später wird er gesetzt. Und, obwohl wir anfangs noch zögern, wissen wir allzu gut, wann der Moment gekommen ist, ihn abzulegen, weil wir deutlich spüren, wie dieser eine Stein aus unserem Leben ein Bild der Vollkommenheit macht. Es ist ein Augenblick größter Nacktheit. Nie vorher und nie nachher werden wir deutlicher unsere Begrenztheit, die Endlichkeit unseres Seins erfassen. Es ist ein Augenblick des höchsten Glücks mit dem süßen Gift der Vergänglichkeit. Dies erleben zu können, hat etwas sehr Heilsames. Denn das Gift mildert den Blick in den grausamen Abgrund.«
Hannes wusste immer noch nicht, was er entgegnen sollte. Annes Worte verwirrten ihn. Er war noch ganz bei den sinnlichen Eindrücken ihres Körpers und sie war schon dabei, ihm gedanklich zu entschwinden.
»Schau nicht so verdattert. Was ich dir gerade gesagt habe, nimmt nichts von dem, was wir seit Gestern miteinander geteilt haben zurück. Ganz im Gegenteil, es gibt ihm bleibende Bedeutung.«
»Wie?!«
»Nun, das menschlich Allzumenschliche, dass wir in den großen Augenblicken des Glücks erfahren, die Nacktheit unseres Seins, sind wir geneigt, von uns zu weisen.«
»Ich beginne zu erahnen, was du meinen könntest. Ich erinnere mich an das Gefühl, kaum noch zu steigernden Glücks bei einem Konzert. Längst war die Bühne leer. Die Zuschauer forderten eine weitere Zugabe. Sie waren noch nicht bereit, sich der Nacktheit des Lebens, wie du es gerade ausgedrückt hast zu stellen. Sie wollten mehr, im Grunde das nie endende Kontinuum. Sie bekamen mehr, auch ich. Und doch hatte diese Zugabe, die alles Bisherige nochmals übertraf, etwas Grausames. Als der letzte Ton verklungen war, war der Saal für einen Bruchteil einer Sekunde von einer geradezu gespenstischen Stille erfüllt, kaum wahrnehmbar. Ich weiß noch, wie mich ein Schauder ergriff. ›Es ist zu Ende.‹ Ich taumelte nach draußen. Ein kühler Wind kam mir entgegen und ließ meinen Geist noch klarer erfassen, was unleugbar vor mir erschien: ›Alles geht zu Ende.‹«
Anne nickte lange.
»Die Nacktheit des Seins fürchten wir so sehr, dass wir den einen Stein zurückhalten. Wir weigern uns, ihn abzulegen, weil er das Ende symbolisiert. Und doch, so sehr wir ihn zurückhalten, je mehr verweigern wir unserem Leben, das, was es sein könnte, oder anders gesagt, das, wozu es bestimmt ist.«
»Ja, es der gleiche euphorische und grausame Augenblick der kommt, wenn wir den letzten Puzzlestein in der Hand halten und etwas uns daran hindert, ihn abzulegen.«
Hannes konnte spüren, wie leicht den Druck ihres Körpers verstärkte, sich noch mehr an ihn schmiegte und Hände in fest umklammert hielten.
›Wir halten fest und wissen doch allzu gut, dass uns alles irgendwann entrissen wird.‹
Während Hannes dies dachte, spürte er, wie er von einer erstaunlichen Ruhe erfasst wurde. Es war dieser innere Frieden, der sich kurz vor dem Einschlafen einstellt. So, gerade so, stellte es sich ein friedliches Sterben vor. Ein sanftes Hinübergleiten. Konnten die kleinen Abschiede des Lebens, so bitter sie auch waren, etwas anderes sein: ein Loslassen ein sanftes Hinübergleiten.