Hors Saison II, XVI

Hors Saison Titelbild

Was nun geschah, ließ sich aus dem gerade Erlebten kaum erklären, noch war es eine logische Folge dessen. Vielmehr offenbarte es den Anachronismus jeder Existenz. In einem Augenblick höchster Erkenntnis, in dem der Geist zu Dingen vorstößt, die das bisherige Leben gleichsam in ein anderes Licht stellen, bricht der gleiche Geist aus und führt den davon Betroffenen an den Rand des Wahnsinns.

Hannes stand urplötzlich auf, warf sich etwas über und eilte ohne jeden Kommentar, ohne Anne in irgendeiner Form deutlich zu machen, was in vorantrieb, aus dem Zimmer.
Er beschleunigte seine Schritte, begann zu laufen. Sein Kopf war leer. Später sollte er kaum beschreiben können, was in ihm vorgegangen war.
Das ganze hatte den Anschein, als habe sein Inneres auf Alarm umgeschaltet. Hätte jemand ihn beobachtet, wäre es sicherlich zu dem Schluss gekommen: ›Da ist jemand auf der Flucht.‹
Als Hannes die Kuppe der Düne erreichte, lag der Strand menschenleer vor ihm. Das Meer hatte sich weit zurückgezogen. Ohne weiter darüber nachzudenken was er tat, zog er sich aus und rannte weiter. Er spürte den feuchten Sand unter den Füßen. Hier und dort lief oder watete er durch kleinere oder größere Pfützen. Das Wasser war angenehm warm. An einer Stelle reichte ihm das Wasser fast bis zum Bauchnabel. Er brauchte aber nicht all zu lange und schon hatte er die Wasser gefüllte Senke verlassen, und rannte erneut los.
Immer noch lag die Wasserkante recht weit entfernt. Als sie erreichte, hielt er kurz inne. So stand er einige Zeit da und schaute mit starrem Blick auf das vor ihm liegende Meer. Leere Gedanken erfüllten ihn, Gedanken ohne Inhalt, ohne Kontur. Sein Verstand war längst ausgeschaltet. Er bestand nur noch aus Materie, einer stofflichen Hülle, die im Begriff was sie völlig aufzulösen.
Ihm flirrten die Augen. Er schloss sie, um den vor seinem Blickfeld auftauchenden Lichtblitzen zu entgehen, sank zu Boden. Dort lag er, spürte nicht einmal, die Kälte und wie sein Körper mit Gänsehaut überzogen wurde und zu zittern begann. Von Ferne betrachtet glich er einem angespülten Stück Treibgut, bereit durch die später einsetzende Flut wieder fortgetragen zu werden.

Als Anne gewahr wurde, was geschehen war, war er längst aus dem Haus gelaufen. Im ersten Augenblick ging sie noch davon aus, Hannes würde wenig später wieder vor ihr stehen. Erst als er nach einigen Minuten immer noch nicht wiedergekehrt war, begriff sie ›Hannes ist weg.‹.
Ein ungutes Gefühl erfasste sie. Ohne weiter nachzudenken, zog sie sich schnell an und verließt ihr Haus intuitiv in Richtung Strand. Erst als sie längst den Pinienwald durchquert hatte und die Düne hinaufeilte, merkte sie, dass sie barfuß losgelaufen war. Der Dorn einer Distel hatte sich tief in ihre Fußsohle hineingebohrt. Mit einiger Mühe konnte sie ihn entfernen und ihren Lauf fortsetzen.
Oben auf der Kuppe der Düne angekommen hielt sie nach Hannes Ausschau. Sie konnte ihn nirgends ausmachen. In Richtung des Hauptstrandes konnte sie die ersten Sonnenschirme sehen. Sie drehte sich um, versuchte Spuren im Sand, zu erkennen. Manchmal lag am Morgen der Sand der Düne eigentümlich geglättet vor einem, gerade dann, wenn ein starker Wind, der meist vom Meer kam, des nachts über die Düne hinweggefegt war und alle Fußspuren verwischt hatte. Hatte es dazu noch leicht gerechtet, konnte man die ersten Fußspuren des Tages deutlich erkennen.
In der Tat, sie erkannte neben ihrer Fußspur noch eine andere, weitaus größere. Dies musste die von Hannes. Sie drehte sich erneut um und ging ihr mit ihrem Blick nach. Die Spur verlor sich etwas seitlich von ihr. Sie folgte der Spur. Im ersten Augenblick war sie sich sicher, Hannes schon bald in einer geschützten Mulde in der Düne sitzend vorzufinden. Sie konnte seine Spur deutlich erkennen. Etwas Blaues tauchte in einiger Entfernung vor ihr auf.
»Hannes!«, rief sie aus.
Das Blau blieb jedoch regungslos. Als sie näher herankam, erkannte sie das T-Shirt von Hannes. Fragend sah sie sich um und entdeckte bei genauerem Hinsehen die Unterhose von Hannes, die einige Meter entfernt wie ein seltsamer Haufen dalag.
Als sie wieder zum Wasser hinschaute und nichts erkennen konnte, packte sie ein Anflug von Panik.
›Hannes, wo bist du?‹, fragte eine Stimme in ihr.
›Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen‹, hielt eine andere Stimme dagegen.
Währende beide Stimmen in ihr noch miteinander rangen, wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass Ihre Sorge sehr wohl begründet sein konnte. Wie gut kannte sie die ohne Ankündigung wie ein Gewitter über ihr hereinstürzenden Stimmungswechsel, dieses Gefühl, von etwas erfasst zu werden, gleichsam zu einem Ding zu werden, das von einem über das Land hinüberfegenden Unwetter erfasst und fortgetragen wird. Es kam stets ›wie aus heiterem Himmel‹.
›Was für ein Euphemismus‹, dachte sie.
Als sie erneute ›Hannes‹ rief, klang ihr Ruf flehend. Minutenlang stand sie da. Ihr Blick ging wiederholt einer Kamera gleich in südlicher Richtung beginnend den Strand in Richtung Norden ab. Sie konnte nichts erkennen, was nur im Entferntesten auf Hannes hindeutete. Dann schaute sie lange aufs Meer. Auch hier konnte sie außer einigen Surfern und einigen Badenden auf der Höhe des Hauptstrandes nichts ausmachen. Vielleicht hatte Hannes ja den Drang zu einem Bad am späten Vormittag verspürt, jene Zeit, in der selbst der Hauptstrand noch angenehm leer ist. Anne beschloss, sich dorthin auf den Weg zu machen.