Anne sah sich am Hauptstrand um, konnte aber niemanden ausmachen, der nach Hannes aussah. Dann fiel ihr ein, dass Hannes keine Badehose bei sich hatte und nackt zu baden wäre hier am Hauptstrand nicht möglich. Irgendwie konnte sie sich auch nicht recht vorstellen, dass Hannes so überstürzt, wie er aufgebrochen war, am noch weiter nördlich vom Hauptstrand gelegenen Teil des Strandes sein sollte.
›Vielleicht ist er gar nicht am Strand unterwegs, sondern irgendwo in den Dünen. Nein, dagegen spricht, dass er sich ausgezogen hat.‹
Während Annes Kopf in einem fort ratterte, Gedanken erwog und verwarf, beschloss sie, nochmals am Strand entlang bis zu der Stelle zu gehen, an der sie Gestern gebadet hatten.
Für Augenblicke vergaß sie ihre Sorge und ging den Ereignissen des letzten Tages nach. Noch waren keine vierundzwanzig Stunden vergangen und schon hatte sich die Ereignisse überschlagen. Das erhoffte Wiedersehen mit Hannes hatte all ihre Vorstellungskraft weit übertroffen.
Die Sonne brannte durch ihr Kleid hindurch auf ihrer Haut. Sie fühlte sich an der Luft gefangen, wie in einem glühenden Ofen, der kurz davor steht zu explodieren. Was war naheliegender, als etwas Abkühlung im kühlen Nass zu suchen. So wandte sie sich zur Wasserkante und stand nach wenigen Schritten bereits knöcheltief im Wasser.
Die Flut war im Begriff, die Ebbe wieder zu verdrängen und das über Stunden freigelegte Land zurückzuerobern. Mit jeder Welle näherten sich die Wassermassen Zentimeter um Zentimeter dem Strand entgegen. Es würde keine Stunde mehr dauern und sie könnte an der Stelle, an der sich gerade befand, nicht mehr stehen. Sie liebte den Wechsel der Gezeiten, vor allem das Kommen der Flut, die sich nach Stunden des Wartens, langsam aber sicher das zurücknahm, was sie vor Stunde zurückgelassen hatte. Bald war ihr ganzer Körper von Wasser umspült. Ihr Kleid begann zu schweben, wurde nur gehalten von ihren leicht angewinkelten Armen, mit denen leichte Schwimmbewegungen vollführte, gerade ausreichend, um über Wasser zu bleiben.
Anne atmete tief ein und tauchte unter. Ihre Augen waren weit geöffnet und hielten Ausschau nach kleinen Fischschwärmen, die an solch ruhigen Tagen, an denen die Wasseroberfläche fast einem glatten Spiegel glich, auf dem sich gegen Abend die Sonne auf einzigartige Weise brach und faszinierende Lichtspiele entstehen ließ, mühelos zu erkennen waren. Nicht weit von ihr entdeckte sie einen Schwarm Fisch. Ihr silberner Körper reflektierte das hoch über dem Meer stehende Licht der Mittagssonne. Der Schwarm glich einer Ansammlung durch Wasser wandernder Lichtpunkte.
Als sie wieder zum Luftholen auftauchte, wurde ihr klar, dass sie Hannes ganz aus dem Blick verloren hatte. Sie schallt sich innerlich dafür und wollte nun so schnell wie möglich wieder aus dem Wasser.
Bald schon war ihr Blick wieder fest auf die Suche nach Hannes gerichtet. Sie war so sehr damit vertieft, dass sie nicht mitbekam, wie ein Strandläufer sie verdutzt ansah, offensichtlich erfreut von ihrem Anblick war und ihr nachpfiff.
Anne blieb aufgeschreckt kurz stehen, um sogleich weiter zu gehen. Ihr Schritte, die sich mehr und mehr beschleunigten, brachten ihre steigende Sorge und den wiederkehrenden Anflug von Panik zum Ausdruck.
In der Ferne glaubte sie den Baumstamm, oder das, was sie von der Düne dafür gehalten hatte, wiederzuerkennen. Als sie näher herankam, erkannte sie ihn.
»Das ist Hannes!«
Ein Laut entfuhr ihr, eine Mischung aus einem Pfeifen und einem Schrei. Kaum hörbar und schon beendet, bevor er sich so recht entfalten konnte. Anne stürzte los und erreichte Hannes ganz außer Atem.
Hannes lag reglos am Boden. Das Wasser würde in wenigen Minuten bereits seinen ganzen Körper überspülen. Auch auf wiederholte Ansprache reagierte er nicht. Anne begann ihn leicht zu schütteln. Nichts geschah.
›Lebt er noch?‹ durchfuhr sie diese beängstigende Frage, die ihr für Sekundenbruchteile das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann erfasste sie die Situation und war bemüht, Hannes, der deutlich schwerer als sie war, mit großer Anstrengung in Sicherheit zu ziehen. Sie musste immer wieder auf ihre Kräfte konzentrieren. Tränen der Verzweiflung begannen ihr die Wangen herunterzulaufen, weil es ihr nicht gelang, Hannes auch nur einen Millimeter vorwärts zu bewegen. Ihr Gehirn arbeite auf Hochtouren, wie ein Transformator kurz vor dem Durchbrennen.
Dann besann sie sich des unmöglichen Unterfangens, kniete nieder und versuchte Hannes aufzurichten. Wenn sie ihn wenigstens in die Sitzposition anheben könnte, wäre schon viel gewonnen. Endlich gelang es ihr.
Erschöpft hielt sie Hannes hinter ihm sitzend aufrecht. Lange, dies war ihr bewusst, konnte beide so nicht verharren. Bald schon würde das Meer beide überspülen.
Hilfesuchend sah sie sich um. Nicht weit von ihr entfernt sah sie ein Kind, mit seinem Eimer Wasser schöpfen. Vermutlich für seine Sandburg, die es etwas oberhalb zu bauen begonnen hatte, weit genug weg vom Wasser, dass nicht die ersten Wellen der Flut das Werk gleich wieder zerstören konnten. Neugierig, wie sie war, hätte sie sich gerne umgewandt und sein Werk bewundert. Mit dem vor ihr liegenden Hannes war ihr nicht möglich, sich weiter zu bewegen.
Sie sah ihn an. Der junge unterbrach sein Schöpfen und erwiderte ihren Blick. Insgeheim hoffte sie, ein Elternteil würde vielleicht auftauchen und ihr helfen.
Der Junge war zu weit weg, um sie wirklich verstehen zu können. So begann Anne mit dem Kopf zu nicken, versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Junge spürte, dass etwas nicht in Ordnung war und rannte davon.
Anne ergriff ein Unbehagen, konnte sie sich doch nicht sicher sein, wie der Junge reagieren würde. Wie würde er das Gesehene einordnen? Konnte er es als das sehen, was es war: Eine Gefahrensituation? Oder hatte sie ihn durch die in ihrem Gesicht geschriebene Verzweiflung verängstigt und der Junge würde es vor ziehen, das Gesehene so bald als möglich wieder zu vergessen?
Sie wollte ihren Blick nach hinten wenden, zur Düne hin. Nach einigen vergeblichen Versuchen gab sie es auf. Erschöpft sank sie innerlich zusammen. Noch war die Situation nicht lebensbedrohlich. Dennoch war sie im Begriff zu kippen und Anne war sich unsicher, ob es ihr gelingen würde, die nötige Gelassenheit zu bewahren.
Das nasse Kleid, das an ihrem Körper klebte, ließ sie frösteln. Sie begann zu zittern. Nochmals versuchte sie, Hannes durch Rufen seines Namens zu wecken. Er lebte ohne Zweifel noch, denn so hinter ihm liegend, konnte mit den über dem Bauch verschränkten Armen seine leichte Atmung erspüren.
»Hannes, kommt endlich wieder zu dir! Wir müssen hier weg, die Flut kommt langsam aber bedrohlich näher.«
Ein leichtes Zucken ging durch seinen Körper. Hannes öffnete für einen Augenblick die Augen. Anne konnte dies nicht sehen. Dennoch hatte ihr sein Zucken ein deutliches Zeichen gegeben.
»Wach auf, Hannes! Zuhause kannst du, ungestört weiterschlafen.«