»Komm!«
Hannes folgte Anne ins seichte Wasser. Sie schwammen hinaus aufs offene Meer. Schon nach kurzer Zeit war der Strand nur noch als dünner Strich zu erkennen.
›Reichlich schnell ging das‹, sagte sich Hannes.
Mit einem Mal spürte er, dass ihn etwas in die Tiefe zog. Er tauchte unter. Ohne jede Bewegung sank er tiefer und tiefer. Dicht an ihm vorbei schwamm ein Schwarm von Silberfischen. Er streckte die Hand nach ihnen aus. Sie wichen ihm aus. Alles geschah verlangsamt. Er sank weiter bis auf den Boden des Meergrundes. Die Wasseroberfläche lag knapp fünf Meter über ihm. Der Schein der Sonne war deutlich zu sehen. Kleine Lichtfäden tauchten ins Wasser ein. Besonders faszinierte ihn der helle Lichtschatten. Hier verlor sich das Blaugrün des Wassers. Ein lichtes Weiß wogte hin und her. Er wurde immer ruhiger, verlor jedes Bedürfnis zu atmen, und bald schon das Bewusstsein.
Vor ihm erschien eine Gestalt, die ihn ob ihres geschwungenen Äußeren an eine Frau erinnerte. Ihre weitaufragende Gestalt übertraf ihn um gut zwei Kopflängen. Er schaute an ihr empor, um ihr Gesicht erkennen zu können. Trotz ihre Größe hatte sie zarte Gesichtszüge. Er konnte sagen, ob sie überhaupt Notiz von ihm nahm. Dann geschah etwas Eigenartiges: Sie blieb stehen und als er weiterging, konnte durch sie hindurchgehen. Ungläubig sah er zurück. Da war sie verschwunden. Er rieb sich dich Augen. Derart wirre Erscheinungen hatte er sonst nur in den schlimmsten Träumen. Er war verwirrt. Im Schatten eines nahegelegenen Baumes suchte er Schutz vor der sengenden Sonne. Er sah sich um. Nichts als Dürre umgab ihn. Der Wind wirbelte den Sand zu eigentümliche Gebilden auf. Die Luft war trocken. Die Hitze fraß sich in seine Eingeweide, holte aus jeder Pore, das letzte bisschen Flüssigkeit. Plötzlich stand ein riesiges Tier vor ihm, schaute ihn mit hungrigen Augen an. Es glich einem Löwen, hatte aber die Größe eines Elefanten. Neugierig betrachtete er das Ungetüm und blieb erstaunlich ruhig. Es kam immer näher auf ihn zu, öffnete das Maul und verschlang ihn mit einem Mal. Im Körper dieses Tieres war es dunkel, er konnte nichts erkennen. Zu seiner Verwunderung konnte er aufgerecht stehen. Ohne das Geringste sehen zu können, folgte er langen Gänge. Nach geraumer Zeit kam ihm ein grelles Licht entgegen. Geblendet hielt er sich die Hand vor die Augen. Ihm wurde schwindelig und er fiel zu Boden.
»Hannes, kommt endlich wieder zu dir! Wir müssen hier weg, die Flut kommt langsam aber bedrohlich näher.«
Seltsam, dachte er, habe ich dies nicht schon einmal vor Kurzem gehört. Er öffnete die Augen, die ihm jedoch gleich wieder zufielen. Er war ergriffen von einer tiefen Müdigkeit. Hinter sich konnte er Annes Körper spüren.
»Wach auf, Hannes! Zuhause kannst du, ungestört weiterschlafen.«
Hannes nahm den flehenden Unterton ihrer Stimme wahr. Immer noch nicht so recht im Hier und Jetzt, war bemüht, der Bitte Annes Folge zu leisten.
Wenige Minuten später stand er mit wankenden Knie auf den Beinen und stellte, als er an sich herabsah, mit Verwunderung fest, dass er nackt war.
»Ich habe ja gar nichts an.«
»Nein, du hast alles oben in den Dünen zurückgelassen.«
»Wie komme ich eigentlich hierher. Lag ich nicht vorhin …«.
Hannes schien, nachzudenken.
»… vorhin im Bett, ganz dicht an meiner Seite, bis du wie von einer Tarantel gestochen aufgesprungen und weggerannt bist.«
»Weggerannt? Warum nur?«
Anne zuckte wortlos mit den Achseln.
»Was treibt dich um. Du wirkst sehr nachdenklich«, durchbrach Anne das Schweigen.
»Du hast recht. Ich fühle mich nackt. Das Leben, das heißt, das was mich erwartet, hat mich entkleidet.«
»Entkleidet?«
»Ja, das Angesicht des Todes hat sich mir gezeigt.«
Anne setzte sich neben ihn und nahm ihn fest in den Arm.
»Vorhin, als ich am Strand lag, hatte ich einen seltsamen Traum. Erst hast du mich eingeladen mit dir hinaus zu schwimmen, so weit, dass wir das Ufer kaum noch erkennen konnten. Dann bin ich einfach untergegangen. Seltsamerweise hatte ich gar keine Angst. Irgendwann schloss ich die Augen und spürte ein sanftes Hinübergehen.«
Anne war gerührt von seinen Worten und begann zu weinen.