»Da war noch ein Traum.«
»Erzähl!«
»Ich fand mich irgendwo in einer wüstenähnlichen Landschaft wieder. Zunächst begegnete mir eine um zwei Köpfe größere Frau. Als ich auf sie zuging, war mir, als würde ich durch sie hindurchgehen.«
Anne lauschte bespannt Hannes Worten und musste sich zwingen nicht gleich schon dazwischenzugehen.
»Und dann war sie weg, wie vom Erdboden verschluckt. Ich ging also weiter. Im Schatten eines Baumes wollte ich verschnaufen, zu Kräften kommen. Die Sonne hatte die Landschaft um mich herum in einen Glutofen verwandelt. Es fiel mir schwer, klare Gedanken zu fassen.«
Die von Hannes beschriebenen Bilder wurden in Anne so lebendig, dass sie nicht mehr an sich halten konnte.
»Hattest du keinen Durst?«
»Ich kann ich nicht erinnern. Dies spielte in meinem Traum wohl keine Rolle. Auf jeden Fall stand plötzlich ein übergroßes Tier vor mir. Es sah aus wie ein Löwe und hatte die Statur eines Elefanten. Ich mache es kurz: Der Löwe fraß mich auf. Darauf fand ich mich im Inneren des Löwen wieder. Aufrecht konnte ich durch seine Innereien wandern, bis mir ein helles Licht entgegenkam und ich kurze Zeit später deine Stimme hörte. Erst da begriff ich, dass ich geträumt hatte.«
»Auf die übergroße Frau, oder die Gestalt, die einer Frau ähnlich war, kann ich mich keinen Reim machen. Der Elefantenlöwe ist auch nicht eines der bekannten Fabelwesen. In der Kombination aus Elefant und Löwe kommt er mir einzigartig vor. In der Schule habe ich einmal ein Referat über die Mythologie des Elefanten gehalten. In ihm habe ich dargelegt, dass Ganesha eine der beliebtesten Darstellungen von Gott im Hinduismus ist. Der Legende nach erschuf Parvati aus sich heraus Ganesha. Sie formte ihn, ähnlich wie im Alten Testament berichtet wird, aus Lehm übergoss ihn mit dem Wasser des Ganges und erweckte ihn so zum Leben. Sie nannte ihn Ganesha, was übersetzt so viel wie Herr der Herrscharen heißt, und setzte ihn als Wache vor ihr Haus. Als Parvatis Mann Shiva, eines Tages nach Hause kam, versperrte Ganesha ihm den Weg und wollte ihn nicht durchlassen. Daraufhin nahm Shiva das Schwert und schlug Ganesha den Kopf ab. Als Shiva bewusst wurde, dass er gerade Parvatis Sohn getötet hatte, rief er nach seinen Dienern und befahl ihnen, den Kopf eines mächtigen Lebewesens zu bringen. Daraufhin brachten die Diener ihm den Kopfe eines Elefanten, den er sogleich Ganesha auf seinen Rumpf setzte und ihn so wieder zum Leben erweckte. So wurde Ganesha zum Sohn von Parvati und Shiva. Heute verkörpert die Statue von Ganesha, dieses für unsere Augen seltsam anmutende Gestalt eines menschlichen Körpers mit Elefantenkopf und vielen Armen, Wohlstand und Weisheit.
»Interessant, erzähl weiter!«
»Vieleicht eines noch, eine kleine Anekdote, die meine Mitschüler nicht weiter vom Hocker gerissen, meine Lehrerin aber zu Tränen gerührt hat. Eines Tages fordern Shiva und Parvati ihre Kinder Ganesha und Skanda zu einem Wettbewerb auf. Sie sollten die Welt so schnell wie möglich umrunden. Dem Sieger wurde die Heirat mit einer schönen Prinzessin und eine Frucht mit magischer Wirkung versprochen. Skanda nahm sich einen Pfau und umrundete in Windeseile die Welt in einem einzigen Tag. Ganesha umrundete zur gleichen Zeit seine Eltern drei Mal, die für ihn das Universum darstellten. Die Eltern waren von der Pfiffigkeit Ganeshas so angetan und konnte nicht anders, als ihn zum Sieger zu erklären.«
»Wunderbar! Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Deine Worte haben mich belebt. Die Schwere über das Unabänderliche ist von mir abgefallen. Nun lass weiter hören, was dir zu meinem Traum einfällt!«
»Nun gut, nähern wir uns dem anderen Tier deines Doppelwesens an. Weisheit und Wohlstand habe wir bereits gefunden. Der Löwe, dies ist ja hinlänglich bekannt, wird gerne als König der Tiere angesehen. Er schmückt als Wappen viele Flaggen, nicht zuletzt die unserer Region Aquitanien. Aus der griechischen Mythologie ist dir vielleicht der Nemeische Löwe bekannt?«
»Ich fürchte nein.«
»Vielleicht kennst du die Sagengestalt des Herakles, als Heroen, dem die Ehre zuteilwurde, in den Olymp aufgenommen zu werden?«
»Flüchtig, nicht wirklich!«
»Heute ist Herakles für manche ein Heil- und Orakelgott, für andere der Beschützer von Sportstätten. Der Sage nach, es ist ein wirkliches Eifersuchtsdrama, zeugte Zeus mit der verheirateten Frau Alkmene Herakles. In Hera, der Frau des Zeus, entbrannte daraufhin ein lebenslanger Hass auf Herakles. Dieser, von Hera in den Wahnsinn geschickt, tötete seine zwölf Kinder, indem er sie in den Flammen des Feuers umkommen ließ. Im Dienst des Königs Eurytheus bekommt er die Möglichkeit, seine Schuld dadruch zu sühnen, indem er zwölf Aufgaben meistert. Die Erste bestand darin, den Nemischen Löwen zu bezwingen und dem König sein Fell zu bringen. Er war gefürchtet und galt als unbesiegbar. Als Herkules ihn mit Pfeilen beschisst, prallen dies einfach an ihm ab. Auch die Keule, man stelle sich vor, von der Größe eines Olivenbaums, richtet nichts aus. Mit List gelingt es Herakles schließlich doch, den in eine Felsspalte geflohenen Löwen festzusetzen und später zu erwürgen. Vom Fell des Nemischen Löwen hieß es, es mache den Besitzer unverwundbar.«
Eine Weile unterbrach Anne ihren eigenen Redefluss. Hannes sag sieh leicht nickend an, als wolle er sich zum Weiterreden annimieren.
»Da haben wir also in deinem Fabelwesen Weisheit, Wohlstand und Unverwundbarkeit vereinigt. Und dieses Wesen hat dich verschlungen, was auf den ersten Blick nach Vernichtung ausschauen muss, wenn am Ende nicht das Licht wäre.«
Anne machte eine weitere Pause.
»Also, ich stelle dir meine absolut skurrile und völlig abwegige Deutung vor.«
»Ich bin gespannt, nur zu!«
»Dir begegnet ein Wesen von übergroßer Natur, ähnlich der Frau, darauf möchte ich gleich nochmal eingehen. Dieses verschlingt dich mit einem Bissen, aber und dies scheint mir bedeutsam, ohne dich zu verletzen. Du wandelst durch den Leib des Tieres, einem Wesen, dem wir die Eigenschaften Weisheit, Wohlstand und Unverwundbarkeit zusprechen können, und es gelingt dir am Ende, diese vermutlich gestärkt, ich sage mal mit neuem Leben beschenkt zu verlassen. Im Licht der Wiedergeburt, denn nichts Anderes hast du gesehen, darfst du nun als mit Weisheit und Wohlstand ausgestatteter Mensch voranschreiten. Und dabei bist du unverwundbar.«
»Soll das heißen, ich werde wieder gesund?«
»Kann ich nicht sagen, mein Lieber. Mir scheint dies auch eher sekundär. Du hast, wie du vorhin gesagt hast, dem Tod ins Angesicht geschaut. Damit bis du unverwundbar, auch wenn er in Kürze auf die zukommt. Einen wichtigen Lebenstein hast du abgelegt, denn du musst wissen, es gibt nicht nur solche, die Personen und damit Ereignissen in unserem Leben zu geordnet werden können. Wer sie in den Händen hält, hat eine Perle der Weisheit gefunden und ist reich beschenkt.«
Hannes Körper begann zu beben. Die Worte Annes hatten ihn bis in die Tiefe seines Inneren erschüttert.
Als er sich gefasst hatte, sage er:
»Du hast mir einen weiteren Stein in die Hand gelegt, den ich hiermit ablegen möchte: die Erkenntnis. Ich habe zum ersten Mal erfasst, das Erkenntnis kein Zusammenfügen logischer Einzelerfahrungen ist. Erkenntnis ist Offenbarung. Ein Akt, in dem sich etwas von dem offenbart, was das Sein im Kern begründet. Ich bin, weil mir etwas zuteilwird, was ich mir selbst nicht geben kann. In meinem Traum war ich nicht gestaltend am Werk. Ich wurde von etwas ergriffen. Etwas, was über mich hinausgeht, hat sich meiner bemächtigt, hat mich ergriffen. Während ich glaubte, ich sei derjenige, der durch dieses Fabelwesen voranschreitet, ist etwas durch mich hindurchgeschritten.«
Nun war Anne es, die sichtlich bewegt nach Luft schnappen musste.
»Was für ein Zusammentreffen. Hier treffen zwei Menschen aufeinander. Und indem sie sich begegnen, glauben sie, ihrer Vergangenheit nochmals nahekommen zu können. Stattdessen werden sie von etwas ergriffen, was so viel mehr ist. Wow!«
»Ja, so ist es. Ich kann dir nur zustimmen.«
»Nun ist auch klar, warum die Frau, der du begegnet bist, so viel größer als du war. Ihre Größe steht für das Gefühl, das wir beide in uns spüren. Uns hat etwas Großes erfasst. Wir konnten durch dieses Große hindurchgehen und sind damit ein Teil von ihm geworden.«
Hannes schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht glauben, was gerade geschieht. Lass uns erst einmal einen Kaffee trinken und unserem Geist eine Pause gönnen!«
»Ich werde uns einen guten Kaffee kochen. Einige Madeleines müsst ich auch noch haben. Später können wir uns überlegen, was wir uns kochen wollen. Vielleicht gehen wir auch eine Kleinigkeit essen.«
Hannes nickte zustimmend. Es sah Anne mit leuchtenden Augen an.