Hors Saison II,XX

Hors Saison Titelbild

Das Abendmahl lag hinter ihnen. Sie hatten vorgezogen, aus dem, was der Kühlschrank hergab, ein köstliches Mahl zu bereiten. Es gab Couscous mit in Olivenöl angebratenem Gemüse, verfeinert mit Sesamkörnern, kleingehackten Pfefferminzblättern und einem aromatisch duftenden Kümmelgewürz. Dazu tranken sie einen leichten und gut gekühlten Roséwein.
Später saßen sie noch lange draußen, genossen die Kühle der hereinbrechenden Nacht. Die zweite Flasche Wein stand geöffnet in einem mit Wasser angefühlten Tonkübel, der den Wein bei einer angenehmen Temperatur hielt.
Anne sah in den von Sternen übersäten Himmel.
»Weißt du eigentlich, warum die Milchstraße so heißt, wie sie heißt?«
Hannes schüttelte den Kopf. Immer schon hatten ihn die Sterne, die Sternbilde und allen voran die Milchstraße fasziniert. Manches Mal hatte er in der Kindheit neidisch vor der Auslage eines Optikers gestanden, lange das ausgestellte Teleskop betrachtet und sich sehnsüchtig gewünscht, es würde in seinen Besitz übergehen. Daraus war nie etwas geworden. Sein Wunsch, den er seinen Eltern eines Tages vor Weihnachten eröffnete, blieb unerfüllt.
»Ich habe dir doch vorhin von der Göttin Hera erzählt. Durch einen geschickten Schachzug wurde ihr das Findelkind Herakles untergeschoben, von dem sie da noch nicht wusste, dass es der Sohn ihres Mannes war, den Zeus mit Alkmene gezeugt hatte. Sie zog Herakles groß und nährte ihn an ihrer Brust. Eines Tages biss Herakles so heftig in ihre Brust, dass ihre Milch bis an den Himmel spritzte. So entstand die Milchstraße.«
Hannes musste lachen. In Gedanken stellte er sich das Szenario vor und musste noch mehr lachen. Er konnte sich kaum beruhigen.
»Bemerkenswert«, fuhr Anne nach einer Weile fort, »mit welcher Liebe zum Detail Menschen vergangener Zeiten in ihren Sagen, die Welt und viele Begebenheiten zu beschreiben versuchten. Dies bleibt bis heute unübertroffen. Ich wünschte mir manchmal, wir würden heute respektvoller mit den Geschichten umgehen, die unsere Vorfahren heute noch zu erzählen haben.«
»Ich gebe dir Recht, wenngleich ihre Geschichten von Krieg und Vertreibung, von Not und Elend und vom Kampf ums Überleben erzählen.«
»Das mag ja sein. Dennoch glaube ich, wenn sie ihre Geschichte heute als Sagen erzählen könnten, würde sie mehr Gehör finden und nicht nur Fakten benennen, sondern die tiefere Wahrheit ihrer Zeit weitergeben.«
»Welche tiefere Wahrheit willst du in der Zeit wiederkehrender Kriege, Unterdrückung und menschenverachtender Ereignisse erkennen können? Vergisst man diese Zeit nicht lieber so schnell wie möglich?«
»Schau, es ist doch bedeutsam, und darin wirst du mir zustimmen, in welcher Zeit jeder von uns geboren und großgeworden ist.«
»Sicherlich, und doch wollen viele Menschen gerade dies so gut es geht hinter sich lassen.«
»Und es gelingt ihnen doch nicht und wird stattdessen nicht selten zu einer Bürde für die nachfolgenden Generationen.«
»Was meinst du damit?«
»Alles, und dies gilt ja nicht nur für die großen geschichtlichen Ereignisse, sondern ebenso für alles, was die Geschichte einer Familie ausmacht, alles wirkt fort. Verborgen, aber es wirkt fort. Ich kann mich noch so sehr bemühen, dem ›Fluch‹, so möchte ich es einmal nennen, der Geschichte meines Herkommens zu entfliehen, es wird mir nicht gelingen. Alles hinterlässt Spuren wie der Biss der Herakles, ob am Himmel oder sonst wo.«
»Und du glaubst, darum sei es notwendig, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen?«
»Ganz gewiss. Wenn ich wissen will, wie die Milch an den Himmel gekommen ist, dann muss ich die Geschichte von der säugenden Hera erzählen.«
Hannes musste erneut auflachen.
»Aber nicht alle Geschichten sind so erheiternd«, wendete er ein.
»Gehört es nicht aber zu den Grundfehlern in unserem Leben, das Unangenehme, schlimme Erfahrungen auszuklammern. Wir beide haben die eine Nacht, die nicht mehr war, als sie war, die wir hätten vergessen können, weil sie in der Summe der Tage und Nächte doch kaum oder gar nicht ins Gewicht fallen konnte, dennoch nie vergessen. Gibt es ein besseres Beispiel, für das, was über Jahrzehnte, vielleicht in einer Familie über Jahrhunderte weiterwirken kann?«
Hannes schwieg. Ihm fiel so schnell nichts Passendes ein. Er hätte gern, wie es seine Art war, mit einer stimmigen Erwiderung Annes Aussagen entkräftet.
»Du meinst also, wir finden einen Schlüssel für die großen Fragen, die uns die Gegenwart stellt, in der Vergangenheit?«
Anne nickte.
»Nehmen wir einfach mal meinen Krebs und die damit verbundenen Fragen, was mich in Zukunft erwartet, für welche Form der Therapie und ob ich mich überhaupt für sie entscheiden soll und letztlich die alles umschließende Frage, wie viel Zeit mir noch bleibt. Kein Arzt, den ich kenne, wird bei diesen Fragen mit mir in die Vergangenheit schauen wollen, bestenfalls wissen wollen, wer in meiner Familie schon an Krebs erkrankt ist.«
»Du glaubst also, dass dein Krebs vom Himmel gefallen ist. Versteh mich nicht falsch. Ich meine damit nicht, dass dich eine höhere Instanz damit bedacht hat.«
»Bedacht hat?! Dies hört sich gerade so an, als habe ich ein großes Geschenk erhalten.«
»Dazu möchte ich mich nicht äußern. Dies zu behaupten wäre anmaßend. Wenngleich es Menschen geben soll, die ihre Krebserkrankung als Geschenk betrachten, weil sie ihnen die Augen für die Kostbarkeit des Lebens geöffnet hat. Aber darum geht es mir gerade nicht. Der Krebs hat dich getroffen und die Frage, die sich mir aufdrängt, lautet: Kannst du in deinem bisherigen Leben Indizien dafür erkennen, dass diese Krankheit in dir ausgebrochen ist, ausbrechen musste?«
Hannes musste schlucken. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, es sei besser aufzustehen, alle Eindrücke des Tages beiseitsschieben und ganz schnell in sein Hotelzimmer flüchten. Aber war er aus seiner Alltäglichkeit geflüchtet, oder war er vor der Diagnose geflüchtet? Wenn er vor dem Alttag ausgewichen war, konnte er sich nun nicht dem Gespräch über seine Krankheit entziehen. Er erkannte die tieferen Zusammenhänge ihres Gespräches und entschied sich, zu bleiben, so hart es auch für ihn werden mochte.
»Du hast mir noch gar nicht gesagt, was für eine Art Krebs du hast.«
»Krebs im Dünndarm mit Metastasen in der Leber.«
»Welche Prognose hast du von deinem Arzt erhalten?«
»Eine ganz vorläufige Prognose. Er gibt mir im Augenblick zwanzig Prozent Überlebenschance, d.h. ohne Therapie in welcher Form auch immer, ist mit meinem Tod in spätestens einem halben Jahr zu rechnen. Mit Therapie könne man meine Lebensdauer auf ein Jahr oder mehr erhöhen. Dies hänge von der Therapie ab, von der Frage, ob man operieren kann, welche Form von Behandlung durch Chemotherapie und oder Bestrahlung möglich wäre und, und, und.«
»Mir wird beim Zuhören schon ganz anders.«
»Dann verstehst du vielleicht auch, warum ich erst einmal einen großen Abstand brauchte.«
»Keine Frage.«
Beide sahen sich schweigend an. Anne nahm ihr Glas Wein und trank den Rest in einem Schluck aus.
»Nehmen wir an, also rein hypothetisch, dein bisheriges Leben und gewisse Ereignisse in ihm würden in einem Zusammenhang mit deiner jetzigen Erkrankung liegen, welcher wäre das?«
Hannes sah sie mit großen Augen an, fast entsetzt. Es war deutlich zu spüren, dass er einen inneren Widerstand überbrücken musste, um sich überhaupt auf die Frage einlassen zu können.
»Wie, ich verstehe nicht recht. Glaubst du, ich habe mir meinen Krebs selbst ›herbeigelebt‹? Entschuldige den komischen Ausdruck. Mir fällt gerade nichts anderes ein.«
»Ich sage es nochmals anders. Wenn deine Krebserkrankung nicht vom Himmel gefallen ist, was sagt sie dir? Was hat sie mit dir und deinem bisherigen Leben zu tun?«
»Zuallererst bin ich krank, schwerkrank.«
Aus Hannes brach etwas heraus. Anne spürte Angst, Verzweiflung und Ohnmacht.
»Verzeih, Hannes, ich will dich nicht bedrängen. Du musst auf meine Frage nicht antworten. Es ist schwer genug für dich, die Prognose erst einmal annehmen zu können.«
Hannes nickte und begann zu weinen.