»Ich würde gerne zu meiner Frage zurückkommen. Was lehrt dich deine Krankheit?«
»Was soll sie mich lehren. Es ist wenige Tage her, dass ich Kenntnis von ihr erhalten habe. Erst seit kurzem ist mir klar, dass sie ein Teil von mir ist. Was sie mir lehrt, dies kann ich dir noch nicht sagen. Es tut mir leid.«
»Nun gut, ich will es anders sagen. Vor einigen Jahren wanderte ich von Arzt zu Arzt. Ich hatte damals Symptome, die sich keiner erklären konnte. Ich war nicht wirklich krank, aber ich spürte all zu deutlich, da war etwas in mir, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was es war. Irgendwann landete ich durch Empfehlung bei einem Arzt, der mir die gleiche Frage stellte, wie ich dir heute. Er fragte damals, ob ich eine Erklärung für meine Symptome hätte. Ich verneinte die Frage. Genauso irritiert wie du, wollte ich mich zunächst nicht auf die Frage einlassen. Ich war ja schließlich zu einem Arzt gekommen, zu einem Fachmann, und ging davon aus, dass er alle Weisheit besäße, mir zu helfen. Dafür sei er schließlich da. Seit jener Zeit hat sich mein Blick auf meinen Körper gewandelt. Ich betrachte heute die vielen Zusammenhänge, dieses geheimnisvolle Miteinander der Organe, die mehr sind als ein großes Uhrwerk, dessen Einzelteile man beliebig auswechseln kann. Es war die Zeit, in der ich meinen Organspendeausweis, den ich über viele Jahre in meinem Portemonnaie mit mir herumgetragen habe, zerriss und wegschmiss.«
Anne blickte starr vor sich hin.
»Bist du bereit, dich auf ein kleines Experiment einzulassen?«, fragte sie nach einer Weile.
»Mal schauen«, antworte Hannes zögerlich.
»Es ist an dir, das Experiment jederzeit abzubrechen! Es kann seine Wirkung nur dann entfalten, wenn du dazu bereit bist.«
Dies beruhigte Hannes.
Er hatte das Gefühl auf dem Zehnmeterturm zu stehen und in die Tiefe zu schauen. Etwas in ihm sagte ›Spring!‹, während eine andere Stimme im davon abriet.
»Es ist wie ein Sprung ins Ungewisse, aber ich will es wagen.«
»Gut. Ich werde dir jetzt einige Begriffe sagen und du bist eingeladen, deine Assoziationen zu ihnen zu äußern. Bist du bereit?«
»Ja. Nun mach es doch nicht so spannend.«
»Entschuldige, ich möchte nur sicher sein, dass du ganz bei der Sache bist.«
»Bin ich.«
»Also die Begriffe sind: Sommer, wachsen, Freude, bitter, rot, Wärme.«
Hannes sah Anne fragend an. Sie sagte nichts weiter, nickte nur, als wolle sie damit den Startschuss geben.
»Der Sommer«, begann er, »ist für mich meine Lieblingsjahreszeit. Mit ihr verbinden sich die schönsten Erinnerungen meines Lebens, Urlaube, Sonne, Meer, Baden, Ausgelassenheit, Liebe und Leidenschaft.«
Hannes unterbrach seinen Redefluss. Vor seinem inneren Auge erstanden Sommerbilder.
»Wie sehr ich die Sonnenuntergänge liebe«, fuhr er fort. »Diesen Augenblick, in dem die Sonne sich in einen Feuerball verwandelt, um wenig später am Horizont im Meer zu versinken. Diese einzigartigen Farben, die sich für kurze Zeit sichtbar werden, manchmal für kaum mehr als für einige Sekunden. Diese Spiegelungen auf dem Wasser. Diese Reflexionen des Lichts in den Wolken.«
Anne musst nicken, denn auch sie kannte diese Faszination für die kurzen Augenblicke des Tages, an denen sich genau diese Spektakel zwischen Himmel und Erde ereignete.
»Wachsen! Ich kann mich an eine Zeit in der Kindheit erinnern, da konnte ich nicht schnell genug wachsen. Ich wollte größer sein, als ich war, wollte in der Schule der Größte sein. Später, als mir klar wurde, dass es immer jemanden gab, der größer als ich war, wollte ich in anderen Dinge, mit meinen Fähigkeiten, mit dem, was ich tat, die anderen überragen. Aber auch hier machte sich schnell Ernüchterung breit. Bis heute hat dieses Gefühl Oberhand behalten. Ich halte mich doch eher für ein ›kleines Licht‹ wie so treffend sagt.«
»Gewiss, das mag sein. Diese Gedankengänge kenne ich nur zu gut. Dennoch: Es gibt keinen Grund sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Du verstehst, was ich meine?«
»Sicher. Gerade wird mir bewusst: Ich habe mich lange in meinen ersten Schreibversuchen mit den ›Großen‹ gemessen. Dies führte meist dazu, dass ich nach kurzer Zeit das Tippen auf meiner beim Trödelhändler erstandenen ersten Schreibmaschine unterbrach und mich frühestens am übernächsten Tag wieder vor sie setzen konnte. Die Zwischenzeit verbrachte ich in einem tiefen Tal des Selbstzweifels.«
›Dies kommt mir sehr vertraut vor‹, dachte Anne bei sich.
»Es waren Zeiten tiefster Einsamkeit. Manchmal hatte ich das Gefühl, das Leben habe mich auf eine ferne Insel ausgespuckt und mein Schicksal sei es, dort unbeachtet von der Welt zu existieren. Oft habe ich mich gefragt, warum ich nicht wie all die anderen um mich herum sein könne. Und mich ergriff regelmäßig Furcht und Zittern, vor dem, was so unweigerlich auf mich zuzukommen schien.«
»Stell dir einen Grashalm vor. Der Samen hat ihn in der Erde wachsen lassen. Er ist im Begriff, sich durch die Erde hindurch ins Licht des Tages hindurchzustoßen. Im letzten Moment hält er inne, verharrt, weil ihn Furcht und Zittern erfasst hat.«
»Und am Ende wird er verkümmern, ohne je das Licht des Tages erblickt zu haben.«
»Wir gleichen doch alle diesem aufwärtsstrebenden und unsichtbar vom Licht des Tages angezogenen Grashalm. Es ist alles bereit. Nichts hindert uns im Grunde. Warum erfasst uns dennoch Furcht und Zittern?«
»Vielleicht, nein ganz sicher, weil wir uns für so klein und unbedeutsam halten. Was sind wir Grashalme auf der großen Wiese des Lebens?«
»Und doch, wie bitter fühlt es sich an, wenn wir uns nicht dem Licht eines jeden Tages entgegenstrecken und wachsen, einfach nur wachsen, selbst dann, wenn die Sense schon längst geschärft wird und der Schnitter schon den Arm zum Schwung ausgeholt hat.«
Noch während Anne ihre Worte zu Ende brachte, brach Hannes buchstäblich in sich zusammen. Er kippte von der Bank. Alles geschah wie verlangsamt, und doch war sie außerstande, zu reagieren und ihn aufzufangen. Mit einem dumpfen Knall viel sein regloser Körper auf den Boden. Dort lag er wie ein dahingestrecktes Stück Wild.
›Meine Worte haben ihn niedergestoßen‹, sagte sie sich. Anne war schockiert und spürte, wie auch ihr die Kräfte schwanden.
Als Hannes in den Armen Annes liegend seine Augen wieder öffnete, sah er in ein ihr besorgtes Gesicht.
»Was hast du?«
Anne schüttelte den Kopf. Tränen der Erleichterung kamen ihr.
»Was hast du?«, wiederholte er seine Frage.
Erneut schüttelte sie ihren Kopf.
Erst nach und nach, erfasste Hannes die Situation, nahm wahr, dass er und Anne sich auf dem Boden der Veranda befanden und begann, sich zu erinnern.
»Der Gedanken an den Sensemann hat mich umgehauen. Mir wurde nur noch schwarz vor Augen.«
»Entschuldige, ich wollte nicht …«
»Was, mir etwas sagen, was ich im Grunde selbst weiß? Der Sensemann ist bereits dabei, sein Messer zu wetzen. Im Kopf ist mir dies seit Tagen bewusst. Aber gefühlt habe ich es noch nicht so, wie gerade. Danke!«
»Wofür?«
»Dass du mir ermöglicht hast, das Unabwendbare schonungslos und mit aller Härte zu fühlen.«
»Bitte! Wenn du das so für dich annehmen kannst, dann soll es mich etwas beruhigen. Ich glaube, ich brauche jetzt einen Armagnac. Willst du auch einen?«
»Gerne!«
Sichtlich bewegt kippen beiden den Armagnac in sich hinein. Lange schauten sie sich wortlos an.
»Da war sie wieder, die Nacktheit des Lebens. Unverblümt hat sie sich von ihrer schrecklichsten Seite gezeigt.«
»Ich will dir nicht widersprechen«, nahm Anne den Faden auf. »Gehört es nicht zu den Grundwahrheiten unseres Seins, dass wir nackt geboren werden und nackt unser Leben beenden.«
»Und gleichzeitig sind wir so sehr bemüht unsere Nacktheit, auch die Ohnmacht, die wir dabei empfinden, zu verbergen. Wir kleiden unser Leben mit allerlei Dingen aus und werden doch immer wider auf sie zurückgeworfen. Was würde sich verändern, wenn wir die Endlichkeit unseres Daseins annehmen könnten. Ich meine, nicht vom Kopf her, sondern ganz tief in uns, dort wo der Same in uns, die Kraft zum Wachsen hernimmt, wohl wissend, dass diese Kraft eines Tages nicht mehr sein wird.«
»Mir wird mit einem Mal ganz warm. Ich bin wohl keine harten Sachen mehr gewohnt.«
»Oder, du spürst gerade das Feuer in dir. Die Kraft, die dich sein lässt, dich vorantreibt und wachsen lässt.«
»Ist es das, was mich hat krank werden lassen? Wie kann sich aber etwas, dass zum Wachsen bestimmt ist, so gegen mich wenden?«
»Vielleicht hast du vergessen, was es heißt zu wachsen, hast versucht, das Leben zu kontrollieren. Besitzt nicht das, was wir uns selbst zufügen, die meiste Kraft, entfaltet die größte Macht?«
»Du meinst, meine Krankheit könnte zum Ausdruck bringen, dass ich mich gegen mich selbst erhoben habe?«
»Ich will mir nicht anmaßen, dies zu behaupten. Jetzt, wo du es selber sagst, es könnte sein. Eines scheint mir jedenfalls klar: Wir können uns nicht gegen die in uns angelegten Kräfte wenden. Versuche es und du wirst jämmerlich scheitern.«
»Jämmerlich, das ist eine treffende Beschreibung. So fühle ich mich gerade.«
»Wer lebt, kann nicht stehen bleiben.«
Hannes sah auf.
»Hast du noch einen für mich?«
Anne goss einen weiteren Armagnac nach.
»Auf das Leben, das Feuer und das Wachsen!«, prostete Hannes ihr zu.
»Auf das Leben, das Feuer, das Wachsen und die Liebe.«
»Die Liebe?«
»Die Liebe, denn sie ist das einende Band. Leben heißt lieben, das Feuer in sich spüren und sich zum Wachsen ausstrecken, jeden Tag neu, dem Licht entgegen.«
»Wohlan!«