Der Tag flog dahin, folgte seiner eigenen Dramaturgie, glich einem Finden und sich von einander Lösen.
Am Nachmittag hatte Anne ihn mit einem weiteren ›Komm!‹ in den Garten gelockt. Die Sonne war längst hinter dem Pinienwald verschwunden. Einzelne Lichtstrahlen durchzogen ihn, brachen hier und dort durch und verbreiteten eine surreale Stimmung.
Hannes betrachtete fasziniert das Spiel aus Licht und Schatten. Licht, das die Hitze des Tages, nochmals zum Flirren brachte; Schatten, die auf ihre Weise, die nahende Dunkelheit andeuteten.
Plötzlich und unerwartet durchzuckte ihn ein Gedanke. Der Zeitpunkt des Abschieds von Anne rückte immer näher, wenngleich er nicht genau sagen konnte, wann er kommen würde.
Diesen Zwiespalt von noch und nicht mehr offenbarte dieses eigentümliche Lichtspiel. Hannes erfasste ein Schauer. Er begann zu frösteln.
Als er sich nach Anne umschaute, stand sie nicht weit entfernt von ihm nackt und deutete ihm an, sich ebenfalls seiner Kleidung zu entledigen. Leicht verwirrt, gab er ihrem Ansinnen nach.
So standen sie einander minutenlang gegenüber, nackt, verharrten wie zwei Skulpturen regungslos, starr.
Dann erhob Anne ihre Arme gen Himmel. Ihre Atmung war deutlich zu hören. Ihr Einatmen hatte etwas Beängstigendes. Anfangs glich es einem Röcheln, wurde dann jedoch mit jedem Atemzug ruhiger. Ihr Ausatmen wurde begleitet von einem tiefen Ächzen. Bis auch dieses ruhiger und irgendwann nicht mehr hörbar war.
Hannes streckte sich mit erhobenen Händen dem Himmel entgegen. Bei jeder Abwärtsbewegung stellte er sich vor, alles Negative bewusst auszuatmen und dann in die Tiefe des Bodens unter seinen Fußsohlen zu drücken. Er hatte den Eindruck auf glühenden Kohlen zu stehen und konnte nur schwer dem Impuls widerstehen, den Standort zu wechseln.
›Etwas brennt in mir‹, dachte er. ›Etwas frisst sich durch meine Eingeweide. Du mein Krebs willst mich zerstören, nach und nach willst du in jede Zelle meines Körpers vordringen.‹
Als Nächstes breitete Anne ihre Arme seitwärts aus und führte sie in einem großen Bogen vor sich zusammen.
Hannes folgte ihren Bewegungen. Nun war ihm, als würde er das ganze Sein umarmen. Für einen Augenblick schloss er die Augen. Mit jedem Atemzug entstand ein neues Bild: die Weite einer Berglandschaft, die vom Abendlicht in ein seidiges Licht getauchte Meeresbucht, die gigantische Formation eines Gletschers, dahingaloppierende Pferde, das Lachen eines Kindes, ein Schwarm flatternder Kolibris, der dichte Nebel des Urwaldes, zwei Liebende beim Tanz, das grelle Leuchten der Sonne zur Mittagszeit, das Tiefe Blau des Himmels.
Glücksknospen sprangen in ihm auf. Sein Körper wurde überzogen von einem Vibrieren, leichten Stromstößen gleich, die Hannes erregten.
Als er die Augen öffnete, schien Anne etwas Übergroßes in den Händen zu halten und von einer zur anderen Seite zu bewegen. Er schloss erneut die Augen. Vor ihm erschien ein bunter Ball. Farben von unvorstellbaren Vielfalt. In seiner Bewegung floss etwas von der rechten Hand in die linke und immer wieder zurück. Bald schon wurde sein ganzer Körper von etwas erfasst, das fließendem Honig glich.
Hannes verlor jedes Gefühl für die Zeit. Wie ein Schüler folgte er Anne und den dem, was sie ihm vormachte. Manchmal war ihm, als spüre er den Hauch des Windes durch sich hindurchgehen. Ein anderes Mal war ihm, als prassle ein lauer Sommerregen auf ihn herab. Intensivste Gerüche drangen in ihn ein. Der Duft einer blühenden Rose, die salzige Brise des Meeres, die Süße einer reifen Ananas, die herbe Note eines frisch aufgebrühten Kaffees. Auf der Zunge entfaltete sich der süße Geschmack von Schokolade, die Würze eines Bergkäses, das Aroma einer selbstgemachten Tomatensuppe verfeinert mit erlesenen Kräutern der Provence.
Als Anne irgendwann zu hüpfen begann, begann auch er glücklich und ausgelassen zu hüpfen. In Gedanken sprang er mal mit kleinen mal mit großen Schritten durch den von der Ebbe freigelegten Bereich des Strandufers, ließ sich in eine mit Wasser angefüllten Mulde rücklings fallen, strampelte mit den Beinen und ruderte wie wild mit den Armen.
Hannes öffnete die Augen. Die Wangen schmerzten.
»Was hast du mit mir gemacht«, wollte er wissen.
Anne schüttelte wortlos den Kopf.
»Komm lass dich treiben!«, raunte sie ihm ins Ohr. Beide sahen sich an. Sein Blick verlor sich in ihrem. Ihre Hände hielten ihn fest umschlungen. Er konnte die glatte Haut ihres Körpers spüren. An einigen Stellen war diese überzogen von einem feuchten Film.
Hannes löste die Umarmung, drehte Annes Körper, so dass sie mit dem Rücken zu ihm gewandt vor ihm stand. Er küsste ihren Nacken und überzog abwärtswandernd ihren Rücken mit tupfenden Küssen, die bald schon in ein Saugen übergingen.
Anne sprang mit einem Satz zur Seite. Hannes sah sie fragend an. Sie erwiderte seinen Blick mit geschürzten Lippen, formte diese zu einem Schmollmund. Wie ein Dieb in der Nacht schlich sie um ihn. Ausdrucksstark hob sie ihre Füße, beugte ihren Körper vor. Ihr Blick wandte sich zum Boden, schnellte dann wieder hoch, wandte sich zu ihm hin. So umrundete sie ihn mehrere Male. Hannes war sichtlich verwirrt. Der Pinienwald hatte sich längst zu einem Grau verwandelt, ohne jeden Funken Licht.
Anne blieb stehen, streckte ihre Arme aus. Ihr Gesicht umspielte ein kokettes Lächeln. Hannes schien es nicht wahrzunehmen, sammelte seine Sachen, die verstreut auf dem Rasen lagen auf und ging kommentarlos an ihr vorbei in Haus.
Sein Gehen war mehr ein Taumeln. Der Boden schien unter ihm zu wanken. Kraftlos ließ es sich im Schlafzimmer aufs Bett fallen und begann bitterlich zu weinen.
Anne, die ihm sogleich gefolgt war, legte sich neben ihn. Ihre Finger zeichneten den Weg seiner Tränen nach.
Unvermittelt stand sie auf und kam nach kurzer Zeit mit einem Bild wieder.
»Schau!«, forderte sie Hannes auf, nachdem sie auf dem Bett Platz genommen hatte.
Hannes hob zaghaft den Blick. Erstaunt rückte er zurück. Er sah in ein übergroßes weinendes Auge.
»Mein weinendes Auge, am Tage seiner Beerdigung.«
Anne musste nicht von ihrem Mann sprechen. Er wusste auch so, dass er gemeint war.
»Du siehst den Kitsch des Lebens.«
»Warum nennst du es Kitsch? Es zeigt etwas von dir, in einer deiner wohl schwersten Stunden. Das kann doch nicht Kitsch sein.«
»Sicher nicht. Dennoch kommt es mir so vor, als habe ich mich, am Boden liegend in diesem überaus trivialen Bild zusammengematscht. Eigentlich wollte ich, dies weiß ich noch genau, ein Bild von meinem Mann und mir malen, zwei Silhouetten am Meer, im Gegenlicht der Abendsonne nur noch als Schattengestalten zu erkennen. Ich habe damals mehrere Anläufe gemacht, Skizze um Skizze verworfen, wutentbrannt aus meinem Block gerissen, zusammengeknüllt und weggeworfen. Irgendwann habe ich aufgegeben und zu weinen begonnen. Dieses Weinen führte mich zur Idee des weinenden Auges.«
»Damit hast du doch etwas Wichtiges festgehalten.«
»Ohne Frage. Und doch festhalten wollte ich etwas Anderes. Etwas, was schon für sich schwer genug war. Es sollte das Bild eines alten Ehepaares am Strand werden, ein Bild von meinem Mann und mir im hohen Alter. Dies habe ich mir immer gewünscht. Ich wollte es mir über das Sofa hängen, an die Stelle eines gekauften Stilllebens. Es sollte mich bleibend an Jules erinnern. Stattdessen habe ich ein weinendes Auge gemalt. Erst später ist mir bewusst geworden, dass, selbst wenn ich nur Strichmännchen gezeichnet hätte, dieses Bild hätte mehr Tiefe erreicht. Kitsch, ist nicht eine Sache der Technik, des Handwerks, noch nicht einmal des Themas, allein ein Zeichen mangelnder Tiefe. Kitsch ist der Versuch, das Leben in ein für alle verständliches Maß zu reduzieren. Wir nehmen dem Leben damit jede Tiefe. Tiefen im Leben müssen überwunden werden. Manchmal heißt es mühsam Brücken zu bauen, viel Kraft aufzuwenden, um am Ende ein Tal zu überschreiten. Und die Trauer ist einer der tiefsten Täler, die es zu überbrücken gilt. Keine einzelne Träne, kann den Ozean an Tränen, das Universum an Schmerz festhalten. Darum und nur darum ist dieses Bild Kitsch.«
Der Tag schloss im Taumel der Gefühle, das an ein seichtes und sanftes Schwappen des Meeres über den Ufersand erinnerte.