Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust,
als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?
Lukas 22,32
Als sie die Anhöhe erreichten, schaute er sich ein letztes Mal um. Im Tal lag der Ort, von dem sie aufgebrochen waren. Er konnte das Scheppern der Kirchenglocken hören, jenen eigentümlich hohen Klang, den der Wind dünn und kaum hörbar zu ihm trug. Er glich mehr einem schrillen Signal, einem schnellen Schlagen auf Blech.
›Gib acht!‹, mahnte eine Stimme.
Eine Vorahnung beschliech ihn. Er war im Begriff in eine für ihn bislang fremde Welt einzutauchen. Noch stand er am Anfang seiner Reise. Er stützte beide Armen in seine Hüften, atmete mehrere Male tief ein und spürte jene Schwere, die sein Sein umgab, von der er nicht sagen konnte, worin sie bestand, nur, dass sie ihn umgab wie einen Panzer, der er durch sein Leben trug, schon lange, vielleicht schon immer.
Sein Begleiter war mit dem Esel schon vorangeschritten und wartete nun in einigem Abstand auf ihn. Dieser würde ihn in den nächsten Tagen an jene Stelle führen, von wo er den letzten Anstieg zu nehmen hatte. Selbst von einiger Entfernung konnte er das Lächeln des zahnlosen Alten noch deutlich erkennen. Dieser war ihm von Anfang an sympathisch. Er strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Sein drahtiger Körper zeigte Spuren eines Lebens voller Entbehrungen. Hemd und Hose waren fleckig und an den Füßen trug er verschlissene Gummistiefel, die ihre besten Tage längst gesehen hatten. Gleichwohl umgab diesen Alten eine eigentümliche Aura, zu der sein wirres dichter Haar, das unbändig vom Kopf in alle Richtungen abstand, beitrug. Im Gegenlicht umgab ihn ein Lichtkranz, der jedes Haar aufleuchten ließ. Der alte Mann machte ein Zeichen und setzte seinen Weg fort.
Für einen Augenblick zog ihn etwas zurück. Nur mit Mühe konnte auch er, seinen Weg fortsetzen. Wie würde sich der vor ihm liegende Marsch durch das Hochland nur gestalten, wenn er schon nach kurzer Zeit am Ende seiner Kräfte war.
Hilfesuchend sah er in das Tiefe Blau des über im ausgebreiteten Himmels. Einige Aasgeier zogen ihre Kreise. Hatten sie erkannt, dass er bereits jetzt kaum noch einen Schritt vor den anderen setzen konnte? Hofften sie gar auf die einträgliche Beute des Tages? Es schien, als kämen sie ihm dahinschwebend ohne jede Anstrengung näher und näher.
»Jungs, ihr könnte euch verziehen!«, schrie er ihnen entgegen. »Noch bin ich nicht für euch bestimmt.«
Er wusste, dass er sich an den Anblick dieser kreisenden Wesen gewöhnen musste. Auch sie würden ihm in der kommenden Zeit zu treuen Begleitern werden. Vielleicht war es von Anfang an besser, sie als Teil dieser anderen Welt, die ihn von nun an umgeben sollte, zu begrüßen. Er hob seine Kappe leicht an, verbeugte sich mit einem kleinen Ausfallschritt und verneigte sich. Als er wieder aufsah, waren sie verschwunden.
›Seltsam!‹, dachte er.
Die ersten Schritte, mit denen er den Weg wieder aufnahm, waren mühsam, beschwerlich. Schweißperlen rannen an seinem ganzen Körper abwärts. Die vereinzelten dunklen Flecken auf seinem Hemd verbanden sich schon bald zu einem einzigen. Immer wieder musste er anhalten und nach Luft schnappen. Noch hatte er sich nicht an die dünne Luft des Hochlandes gewöhnt.
Sein Begleiter war ihm weit voraus. In der Ferne dieses sich unablässig hochwindenden Pfades konnte er das dunkle Rot seines T-Shirts wahrnehmen, auf dem stand: ›Ja, so ist das Leben.‹
›Wie?‹, fragte er sich. Vor ihm lagen, wenn alles gut verlief, gut sechs Tage Fußmarsch, mit einem Anstieg zum krönenden Abschluss, der es in sich haben sollte. Für einen Moment wünschte er sich zurück in seinen Garten, zurück in seinen Schaukelstuhl, versorgt mit einem guten Glas Wein und einer spannenden Lektüre. Die Aussicht dessen, was ihn voraussichtlich erwarten würde, raubte ihm den Atem. Er begann heftig zu husten, griff zur Wasserflasche, kippte einen großen Schluck in sich hinein.
In ihm tobte ein innerer Kampf. ›Was mache ich hier?‹ war ebenso zu hören wie ›Es ist nur der Anfang, der dich beschwert.‹, ›Die Strapazen werden es nicht wert sein.‹ und ›Am Ende wirst du über dies hier nur noch lachen.‹
An einer der nächsten Biegungen, die der Weg nahm, saß der Alte im Schatten eines Baumes. Er winkte ihm zu und deutete ihm an, sich für einen Augenblick niederzusetzen.
›Wenn er doch wenigstens reden würde.‹, sagte er sich. Das Einzige, was mit ihm sprach, war sein Körper: ein Nicken, ein Hin und Her, ein Beugen des Rumpfes, zahlreiche Bewegungen der Arme und Hände, die ohne jedes gesprochene Wort auskamen. Und dann diese Augen, deren Blick das ganze Alphabet des Lebens ins sich barg und jederzeit abrufbereit zu sein schien. Am Anfang war es ihm unangenehm, in seine Augen zu schauen.
Mit der Zeit gewöhnte er sich an diese so völlig andere Art der Kommunikation. Es dauerte nicht lange und er begann die Bewegungen, die Blicke und gelegentliche Laute, ein Zischen, ein Gurgeln, ein Pfeifen, nachzumachen. Dies löste beim Alten zunächst ein schallendes Gelächter aus, wich dann mehr und mehr einem wohlwollenden und bekräftigenden Nicken.
Der Alte reichte ihm etwas. Eine sah eine Weile auf die in der von der Sonne gegerbten faltigen Mulde seine Hand liegende Frucht. Er hatte davon gehört, dass es in diesem Land zahlreiche für ihn unbekannte Früchte gab. Zögerlich griff er nach ihr, steckte sie in den Mund. Beim Kauen hatte er das Gefühl, seine Zähne wären vor die Aufgabe gestellt, eine Ansammlung kleiner Steine zu zermahlen. War das, was der Alte ihm gereicht hatte, wirklich essbar, oder wollte er ihn als Fremden nur auf die Probe stellen?
Als ob der Alte seine Gedanken erraten hatte, steckte er selbst eine Frucht in den Mund, kaute eine Weile und gab mit eindeutigen Handbewegungen zu verstehen, dass es nun an der Zeit sei, zu schlucken. Widerwillig folgte er seiner Anweisung. Sein Gesicht schien Bände zu sprechen, denn der Alte begleitete seine Schluckbemühungen mit einem heiseren Krächzen. Seine Hände machte gleichzeitig kreisende Bewegungen auf dem Bauch und wurde verstärkt von einem heftigen Nicken. Er nahm das Nicken auf. Ihm wurde klar, dass er von jetzt an nicht nur auf diesen Alten angewiesen war, sondern das sein Wohlbefinden geradezu davon abhing, wie sehr er bereit war, sich ihm in allem, wirklich allem anzuvertrauen.
Er war bereit dazu.
Als beide ihren Weg fortsetzten, spürte er, wie eine Kraft in erfüllte, die etwas Belebendes hatte. In der folgenden Stunden konnte er mit dem Alten schon besser Schritt halten.
›Ein Anfang!‹, dachte er.