Ich lausche dem Feuer des Herzens II

OhneTitel

Beim nächsten Halt griff der Alte in die Satteltasche und holte einen kleinen Stoffsack hervor. Er zog einige getrocknete Blätter heraus und reichte sie mit. Selbst legte er einige von ihnen übereinander und stopfte sie in eine seiner beiden Wangentaschen. Ein kurzes Nicken deutete ihm an, es ihm gleich zu tun.
Widerwillig folgte er seine Anweisung. Er musste würgen und spukte die Blätter gleich wieder aus. Der Alte schaute ihn vergnügt an und forderte ihn mit strengem Blick auf, die Blätter gleich wieder in die Wange zu stecken.
Mit etwas Mühe gelang es ihm, die Blätter so zu positionieren, dass sie nicht bis in den Rachen ragten und einen erneuten Brechreiz verursachten. Es dauerte einige Minuten, bis die Blätter sich durch einen vermehrten Speichelfluss zu einer Masse verbunden hatten. Der Geschmack war grasig und für ihn mehr als gewöhnungsbedürftig. Am liebsten hätte er die Blätter in dem nächsten unbemerkten Moment gleich wieder ausgespuckt. Der Alte hielt ihn aber im Blick, und gab ihm damit zu verstehen, dass er um sein Ansinnen wusste.
Er hatte davon gehört, dass die Bevölkerung in den Hochlandregionen gerne zum Kauen dieser Blätter als Nahrungsergänzung griff. Ihre Wirkung war wissenschaftlich erwiesen und hatte nichts mit der Substanz zu tun, die in weiten Teilen der Welt anderen als Suchtmittel diente. Für viele war es eine selbstverständliche Verrichtung des Tages, die auf langen Fußmärschen oder bei der Arbeit das Hungergefühl eindämmte und die Kälte vertrieb. Gleichzeitig förderte es die Sauerstoffaufnahme. Kam man aus tieferen Regionen, schien es fast unerlässlich, wollte man nicht über einen permanenten Kopfschmerz und Schwindel klagen.
Die Wirkung der Blätter setzte nicht sogleich ein. Später fühlte er sich angenehm belebt. Die Strapazen des Fußmarsches, der nun schon einige Stunden dauerte, wurden erträglicher. An dem Schmerz, den eine Blase ausgerechnet unter der Fußsohle auslöste, konnte dies gleichwohl nichts ändern. Und doch war der leichte Druck, den er im Kopf verspürt hatte, verschwunden. Das Atmen fiel im leichter.
Als er wieder einmal für kurze Zeit anhielt, um zu verschnaufen, schaute er in den nun mit Regenwolken verhangenen Himmel und sah sie wieder, die über im kreisenden Geier. Wie zum Gruß hob er die Hand und setze dann seinen Marsch fort.
Manchmal war er so fasziniert von der Landschaft, dass er das Gehen vergaß. Nicht selten schreckte ihn ein Pfeifen des Alten auf, der ihn damit gemahnte, weiterzugehen.
Am Mittag machten sie Rast unter einem kleinen Felsvorsprung. Der Alte reichte ihm ein kleines seltsames Paket und einen Löffel. Er nahm beides dankend entgegen. Zunächst wusst er nicht recht, was er damit anfangen sollte. Offensichtlich verbarg sich in ihm etwas Essbares. Neugierig schaute er zu, wie der Alte das in Blättern eingewickelte Mahl öffnete, mit seinem Löffel die Speise  auseinanderbreitete und genüsslich zu essen begann. Er tat es ihm nach. Ein ungewohnter Duft kam ihm entgegen. Hungrig dachte er weniger darüber nach, was er zu sich nahm, musste aber zugeben, dass es besser als erwartet schmeckte.
Während des Essens, machte sich der Alte daran, ein kleines Feuer zu entzünden und etwas Wasser zu erhitzen. Später reichte der Alte ihm noch eine Tasse, in der einige von diesen Blättern schwammen, die er bereits auf dem Weg gekaut hatte.

Er sah auf. Der Alte schien in sich gekehrt. Sein wildes und zerzaustes Haar fiel ihm ins Gesicht. Seine Augen waren geschlossen. Etwas eigentümlich Friedvolles ging von diesem kauzigen Wesen aus. Erst vor Stunden waren sie einander begegnet. Gleichwohl war er ihm bereits so vertraut geworden, als würden sie seit Jahren regelmäßig durch das Hochland streifen.
Etwas begann sich, in ihm zu öffnen. Die Kehle schnürte sich zu. Für einen Augenblick bekam er keine Luft, röchelte. Hilfesuchend sah er zum Alten, der unbeirrt in ich gesunken verweilte. Er versuchte zu rufen, jedoch kein Ton wollte ihm entweichen. Am Himmel zogen die Geier ihre Bahnen.
›Ach, holt mich doch einfach. Bringt mich weg von hier!‹, war das Letzte, was er bewusst dachte.

Er fand sich wieder in einer menschenleeren Ebene. Vor ihm nichts als Weite, kein Wesen weit und breit. Er schritt über weiches Grün. Er war nackt und fror, trotz der Sonne, die am Himmel stand. Seine Arme streckten sich der Sonne entgegen. Vergeblich versuchten sie, etwas von der Wärme zu ergreifen. Ein schauriges Zittern ging durch in. Von Ferne hätte man ihn für einen alten vom Wind hin und hergeworfenen dürren, blattlosen Strauch gehalten, dem Tode geweiht. Plötzlich veränderte sich seine Umgebung, so als sei eine Kulisse auf der Bühne durch eine andere ausgetauscht worden. Nebel umgab ihn. Ein eisiger Wind kam ihm entgegen und machte ein Fortkommen kaum möglich. Sphärische Klänge drangen an sein Ohr. Sie hatten etwas Schauriges. Der Nebel wurde dichter und dichter und er konnten den Weg vor sich kaum noch erkennen. Dunkelheit brach über ihm ein. Verzweifelt, von Angst geschüttelt entschwanden ihm die letzten Kräfte. Er fiel. Während des Fallens schien die Zeit stehenzubleiben. Ihm war, als würde Jahre, ganze Leben an ihm vorbeiziehen. Seine Wahrnehmung hatte Aussetzer. Sprang. Sand und Schotter drückten sich am ganzen Körper in ihn hinein. An manchen Stellen platze die Haut auf. Warme Rinnsale traten aus. Er konnte fauligem Eisen riechen. Die Kehle brannte, wie die Weite einer ausgetrockneten Flussbettes.  Ein Geschmack von Herbheit lag auf seiner Zunge. Als der Boden unter sich nachzugeben begann, schloss er die Augen. Er horche auf. Der Gesang eines Chores drang aus der Ferne an sein Ohr und umhüllte ihn wie eine wärmende Decke. Da war eine Stimme, kaum hörbar. Aus einem kurzen Aufschrei heraus formte sie zaghaft und schwebend: ›Nicht vom Brot allein.‹

Etwas rüttelte an ihm. Als er die Augen öffnete, sah er in ein ihn ruhig  anlächelndes Gesicht. Er versuchte, sich zu orientieren, stand, als er etwas zu Kräften gekommen war, auf. Erst da merke er, dass er einen Stein in seiner Hand hielt. Er war schlicht, matt. Kleine Erdklumpen klebten an ihm. Beim genaueren Hinsehen erkannte er etwas Leuchtendes, eine lichte Einschließung von etwas, das aus einer anderen Welt zu kommen schien. Ein Schauer durchlief in. Er begann mit den Armen wild zu fuchteln.  Etwas brach aus ihm hervor und er begann zu schluchzen.
Der Alte nahm in den Arm. Sein von dünner Haut überzogenes Skelett hatte eine Weichheit. Sie verströmte eine Wärme, mehr noch, eine Hitze, die von einem anderen Ort zu kommen schien.