Ich lauschen dem Feuer des Herzens V

OhneTitel

Am nächsten Mittag rasteten sie in der Nähe eines Baches. Noch ehe er sich versah, hatte der Alte sich entkleidet und sprang hinein. Intuitiv musste er die Stelle sogleich erkannt haben, wo ihm das seicht dahinplätschernde Wasser bis zum Knie reichte. Er ließ sich zurückfallen, drehte auf den Bauch und verharrte eine ganze Weile regungslos wie ein Stück Treibholz.
Urplötzlich sprang der Alte wieder auf, riss die Arme in die Höhe und fuchtelte mit ihnen in der Luft. Mit einer Handbewegung deutete er wenig später seinem sichtlich verwirrt dreischauen Gefährten an, dass er noch einen Augenblick im Wasser verweilen wolle.
Diverse Anstiege waren lang und mühsam gewesen. Zeitweilig blockierten fast unüberbrückbare vom letzten Regen abgegangene Erdrutsche den schmalen Weg, oder hatten diesen gleich mit sich gerissen. Der Esel fand immer einen Weg. Noch bevor sich die nächste unpassierbare Stelle zeigte, wich er vom Weg ab. Meist folgten sie ihm. An einer Stelle mussten sie sich gesichert durch ein Seil frei schwebend über dem steilen Abhang von Pflanze zu Pflanze hangeln. Manchmal waren es nur Reste von Wurzelwerk, die aus Felsspalten hervorlugten. Nicht selten gaben sie keinen Halt, einige rissen sogleich ab.
Die Anstrengung und Anspannung steckten beiden in den Knochen, während der Alte immer noch vergnügt durchs Wasser tanzte, sich drehte und immer wieder untertauchte.
Seine funkelnden Augen hatten etwas Durchdringendes, als er wenig später vor ihm stand. Er konnte seinem Blick kaum standhalten und senkte den Kopf. Dabei nahm er die Beschneidung des Alten wahr und wandte sich irritiert ab.

Nach dem Mittagsmahl saßen sie noch eine Weile da. Beide gingen offensichtlich ihren Gedanken nach, ohne so recht Notiz einander zu nehmen. Der Alte saß mit geschlossenen Augen vor ihm, in sich gekehrt, in seine Welt versunken. Seine Arme hingen völlig entspannt an ihm herab, sein Kopf war leicht vornübergebeugt. Sein zerbrechlich scheinender Körper hatte gleichzeitig etwas Kraftvolles und verbreitete Ruhe und Ausgeglichenheit. Müdigkeit und eine angenehme Schwere überkamen ihn. Er musste gähnen und als er die Augen schloss, fiel er hinein in kaum zählbare nicht enden wollende Augenblicke.

Emsige Treibens auf einem Marktplatz. An zahlreichen Ständen wurde diverse Lebensmittel und Dinge des täglichen Gebrauchs angeboten. Das Szenarium erinnerte an längst vergangene Tage. Unschlüssig, was zu kaufen sinnvoll sei, sah er sich um. Er griff in seine Manteltasche, zog den Geldsack heraus, öffnete ihn und begann sich einen Überblick über seine finanziellen Möglichkeiten zu verschaffen. ›Mein Herr, schauen sie her! Kommen Sie, ich werde Ihnen etwas geben. Und für sie soll es heute kostenlos sein.‹ Erstaunt sah er sich um und erkannte in der Nähe einen ihm zuwinkenden Alten. Neugierig näherte er sich, nickte ihm zum Gruß zu, ohne selbst das Wort zu ergreifen. Der Alte deutete auf die Waren seines Standes. ›Nichts als Trödel‹, dachte er und war schon im Begriff, sich wieder abzuwenden, da schnellte die Hand des Alten über den Verkaufstisch und hielt ihn am Mantel fest. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich von ihm loszureißen, dennoch blieb er stehen. Pfeilschnell ergriff der Alte das Zögern als Gelegenheit, beugte sich hinunter und zog etwas unter dem Tisch hervor. Er wusste nicht sogleich, was der Alte ihm entgegenstreckte. Der Gegenstand glich abgegriffenen Eisen. Erst als er ihn vor seine Augen führte, erkannte er, dass es sich zweifelsohne um ein Kaleidoskop handeln musste. Der Alte nickte ihm verständig zu und gab ihm zu verstehen, dass er ihm Dieses überlassen wolle. Er winkte ab, aber der Alte beharrte darauf. Abseits des allgemeinen Treibens nahm er am Boden Platz. Der Blick durch dieses Guckrohr fesselte ihn und wollte ihn nicht mehr loslassen. Die Welt zerteilte sich, verschwamm ineinander, so dass ihm schwindlig wurde und er das Kaleidoskop absetzen musste. In seinem Kopf schien Ähnliches zu geschehen. Feste Bilder begannen sich zu teilen. Kleine Facetten eines Gesamtbildes wurde in wiederkehrenden Ausschnitten sichtbar. So sah er alles und durchlebte dieses immer und immer wieder.

Als er aus dem Traum wieder erwachte, war der Alte dabei, mit einem Stock seltsame Zeichen in den Lehmboden zu zeichnen. Er konnte vier angedeutete Buchstaben erkennen. ›So, so, du kannst also schreiben‹, sagte er zu sich, während er den Alten musterte. Wieder einmal wurde er überrascht. Aber im Grunde hatte er längst aufgegeben, sich in irgendeiner Weise ein Bild vom Alten machen zu wollen. Sein Äußeres, sein ganzes Verhalten und Gehabe hatten etwas Unergründliches. Kaum glaubte er, den Alten durchschaut zu haben, da verwirrte er ihn auf Neue. Noch war es ihm nicht möglich, hinter allem einen größeren Zusammenhang zu sehen. Der Alte war ein Mysterium, unergründbar, geheimnisvoll und voller Überraschungen.
Der Alte zeigte mit dem Stock auf den Boden und unterstrich mit einer flinken Handbewegung das Geschriebene. Mühsam konnte er die Buchstaben aneinanderreihen.
J u a n.
Der Alte tippte erneut mit dem Stock auf die Buchstaben und dann auf sich selbst. Ein Grinsen ließ sein Gesicht erstrahlen.
»Ich heiße Aloisius.«
Der Alte sah ihn verwundert an.
Ohne sich darüber im Klaren zu sein, ob der Alte folgen konnte, fügte er jene Erklärung an, die er sich seit seiner frühen Kinheit zugelegt hatte, um fragenden Blicken bei der Nennung seines Namens etwas entgegnen zu können.
»Meine Eltern auf der Suche nach einem besonderen Namen, fanden bei einem Gottesdienstbesuch ein Heiligenbildchen vom Heiligen Aloisius Gonzaga. Dieser lebte im 16. Jahrhundert in Italien, war schon als Junge fromm und gottesfürchtig und trat später dem Jesuitenorden bei. Er starb mit gerade mal dreiundzwanzig Jahren an der Pest. Wahrscheinlich haben meine Eltern gehofft, ich würde es ihm gleichtun und wollten mir mit der Namensgebung auf die Sprünge helfen. Aber wäre ich hier, wenn ich Weisheit und Glauben gefunden hätte. Im Grunde bin ich ein Zweifler und bin nicht sicher, ob diese Reise etwas daran ändern kann.«
Der Alte hatte ihm aufmerksam zugehört und unablässig genickt. Dennoch konnte er nicht davon ausgehen, dass dieser ihn verstanden hatte. War es von Bedeutung? In den folgenden Tagen sollte er immer wieder zu Monologen greifen und der Alte würde ihm wohlwollend zuhören, wenngleich er nicht sagen konnte, inwieweit er ihm und seinen Ausführungen wirklich folgen konnte.
Immerhin wusste er nun um seinen Namen.
›Juan‹, wiederholte er den Namen des Alten, als sie schon längst wieder den Weg aufgenommen hatten, einem Mantra gleich und ließ seine Gedanken wandern.